Fünfundfünfzigstes Kapitel. Über das Wesen der Tugenden.
Überleitung. „Denn nicht vom Aufgange und nicht vom Niedergange und auch nicht von den wüsten Bergen her: weil Gott der Richter ist.“ Ps. 74. Quia neque ab oriente, neque ab occidente neque a desertis montibus: quoniam Deus judex est. So droht der Psalmist den Gottlosen, die er in Psalm 36 „gesehen hatte hoch erhoben wie die Ceder des Libanon,“ „die da,“ nach einem anderen Psalm „Überfluß hatten in dieser Zeit und Reichtümer besaßen und deshalb bis zum Himmel ihren Mund erhoben und Bosheit sprachen im Bereiche des Erhabenen.“ Eben hatte er ihnen gesagt: „Handelt nicht gottlos; wollet nicht erheben euere Herzen; erhebet sie nicht zum Hohen hin und sprechet nicht Bosheit gegen Gott. Denn weder ist das Heil vom Aufgange noch vom Niedergange;“ weder liegt es im zeitlichen Glück noch im zeitlichen Unglück. „Und auch von den wüsten, unfruchtbaren Bergen“ zeitlicher Macht und Größe kommt es nicht. „Gott ist Richter.“ Der Psalmist drückt das Nämliche aus, was der Herr bei Matthäus 24. sagt: „Wenn euch dann jemand sagt: Siehe, hier ist Christus oder da ist Er; glaubet es nicht …. Und wenn sie (die falschen Propheten) euch sagen: Siehe, in der Wüste ist Er, gehet nicht hinaus; oder: Siehe, in den inneren Räumen, glaubet es nicht.“ Die Thatsache wird in diesen Stellen ausgesprochen zur Drohung für die Gottlosen und zum Troste der Guten, daß nach dem kraftvollen Ausdrucke Pauli „den Guten Alles gehört,“ wenn sie, mag es auch das geringste sein, das was sie thun, im Geiste der Tugend thun; — wogegen den Gottlosen, und mögen sie die Macht der ganzen Welt besitzen, bei allem ihrem Thun sogleich von einer anderen Seite her quälender Widerspruch erwächst, so daß sie wohl, wie der Prophet sich ausdrückt, sagen: Friede, Friede; in Wirklichkeit aber ihre Seele in Unruhe ist wie die stetig auf und ab wallenden Wogen des wilden Meeres. O Mensch! Du kannst nicht zur Ruhe kommen, wenn du nicht der Richtung deiner eigenen Natur folgst. Sie ist dir gegeben als der beständig zugängliche Gradmesser deiner Handlungen. Schaue nicht so nach dem Aufgange, daß der Niedergang dir verschlossen bleibt. Gehe nicht in der Weise in die Wüste, daß dir es nicht mehr gestattet ist im Hause zu weilen. Und magst du hinaufsteigen soweit du willst die hohen Berge weltlichen Ansehens und weltlicher Ehre; wüste sind sie und unfruchtbar, die gesuchte Freude findest du da nicht, wenn du so dein Heil, deinen Christus da erreichen willst, daß dir die Möglichkeit nicht bleibt, ihn auch im Entgegengesetzten, in der Tiefe des Thales zu finden. Ein Bild der Allgegenwart Gottes ist der Mensch. Überall ist sein Gut, überall blüht sein Friede, überall erwächst ihm Trost; weder Niedriges noch Hohes, weder Glück noch Unglück, weder Tod noch Leben ist davon ausgeschlossen. Und wenn seine beschränkte Zeitlichkeit ihn für jetzt hindert, seine Ruhe der Thatsächlichkeit nach in Allem zu finden, Alles thatsächlich als Gegenstand seiner Freude festzuhalten; so wohnt ihm doch schon jetzt bereits das Vermögen inne, wonach er so nach dem einzelnen Gute streben kann, daß in ihm das selige Begehren alles Anderen ohne Ende recht gegenwärtig wird, bis er einst das Allgut in aller Wirklichkeit besitzt. Ein Bild der göttlichen Weisheit ist der Mensch. Denn so handelt er gemäß dem Grunde, der ihm erscheint, daß ihm dadurch nicht der Weg zu anderen höheren Gründen abgeschlossen, sondern vielmehr dieser Weg zum höchsten Grunde hin erst recht offen wird, der da allen Gegensatz versöhnt, alles Schwache stärkt, alle Beziehungen in sich selbst lebendig in höchster Einheit schaut. Und gerade darin liegt die Stärke des menschlichen Wirkens, daß das Endlose dem Vermögen nach, das Wesen in den Dingen selbst, unabhängig von allen äußeren Einzelheiten und Erscheinungen, in ihm wiederstrahlt und so ihn abkehrt vom Stehenbleiben beim Äußerlichen und Beschränkten. Das Unendliche, was in Gottes Weisheit reine Thatsächlichkeit ist und so den wirkenden Grund enthält für Alles, was geschieht, spiegelt sich im Menschen als Vermögen ab zum Unendlichen hin. Ein Bild des Allmächtigen trägt der Mensch. Denn wer möchte begrenzen das, was alles der Mensch thun, was er erreichen, was er verstehen kann, wenn auch thatsächlich sein Wirken immerdar begrenzt ist. Des Menschen Natur zieht freilich Grenzen seinem Können. Aber liegt es nicht in dieser Natur selber, daß sie bei nichts Geschaffenem, bei keinem Wirken, das von ihr ausgeht, endgültige Ruhe findet! Da breitet sich vor uns jenes Gastmahl aus, von dem es im Buche Esther heißt 8, 17.: „Bei allen Völkern, Städten und Provinzen, wohin auch immer die Befehle des Königs kamen, siehe wunderbares Frohlocken, Gastmähler und fröhliches Speisen und Festtag.“ Wohin auch immer der Ruf des himmlischen Königs gedrungen, wo auch immer ein Sein, wo auch immer ein Gut, wo auch immer eine Wahrheit ist, da findet sich auch des Menschen Friede, des Menschen Glück, des Menschen Trost; denn von jedem einzelnen dieser Dinge eröffnet sich ihm, sobald er es seiner eigenen Natur nach erstrebt, die Prachtstraße zum Unendlichen, zu allem Gute, die er ohne Hindernis dann nicht mehr nur gehen, sondern laufen kann. Die Großartigkeit dieses Gastmahls preist der Prophet (Isai. 25.): „Und der Herr der Heerscharen wird bereiten allen Völkern auf diesem Berge ein Gastmahl fetter Stücke (Mastochsen), ein Gastmahl der Weinernte, fetter markiger Stücke.“ Denn nichts wird fehlen; selbst die Macht und die Reichtümer der Welt, mit welchen die Sünder sich mästen, gießen was sie an wahrhaftem Guten besitzen in die Seele des Gerechten aus, der so das Eine genießt, daß ihm dabei die wirkliche Macht bleibt Alles zu besitzen. Aber immer ist es Gott, der dieses Gastmahl bereitet; immer ist es der himmlische König, welcher seinen Ruf ergehen lassen muß, damit die Seele in rechter Weise ihrer natürlichen Kräfte sich bediene und das Vermögen zum All hin in sich bewahre. Willst du nicht einseitig am Aufgange stehen bleiben oder am Niedergange oder auf den wüsten Bergen; — dann füge stets mit dem Psalmisten hinzu: „Denn Gott ist der Richter.“ Füge mit dem Heilande hinzu: „Wie der Blitz ausgeht vom Aufgange und hell strahlt bis zum Niedergange, so wird sein die Ankunft des Menschensohnes.“ Alles umfaßt der Blitz in einem Augenblicke und nach allen Seiten hin leuchtet er, ohne daß sein Leuchten durch ein anderes Leuchten vorbereitet wäre. So richtet Gott in der Seele, so ist sein heilig Leuchten, daß nichts davon ausgeschlossen ist, kein Teil der Seele ohne Furcht bleibe. Er allein, wenn er in die Seele kommt, macht Alles lebendig darin, ohne daß etwas ihm vorherzugehen brauche; Er richtet, Er scheidet in der Seele die Kräfte so voneinander, daß eine jede, mag sie stofflich oder sinnlich oder rein geistig sein, je nach ihrer Beschaffenheit teilnimmt an der Freude und keine in ihrer Thätigkeit in der Weise vorwiegt, daß die Thätigkeit einer anderen ausgeschlossen werde. Der heilige Thomas hat diese reine Freude gekostet. Er war heilig in seinem Herzen. In ihm schied Gott den „Aufgang“ vom „Niedergange“ und von den „wüsten Bergen“, daß der Aufgang den Niedergang nicht störe und der Niedergang nicht den Aufgang; und daß demgemäß die Berge, die Beides notwendig haben, um Frucht zu bringen, von beiden Seiten her die kostbarsten Früchte des Heiles zeitigen. Thomas konnte auch ein solches menschliches Wirken wie keiner würdig beschreiben. Oder was ist dieser „Aufgang“ anders wie das Aufleuchten der Vernunft, die dem Willen die Fackel vorträgt, damit derselbe seinem Zwecke angemessen wolle. In der Vernunft geht auf gleich der Morgenröte das Gesetz Gottes, wie es Gott niedergelegt hat in das Innere des Wesens der Kreaturen um uns herum und wie es noch besonders offenbart worden ist durch seine Güte. In der Vernunft leuchten die Wesenheiten der Dinge und weisen den Weg, wie der Mensch sie leiten könne nach den Ideen des Allmächtigen. Aber dieses Leuchten geht einzig auf das Allgemeine; es schließt nichts Einzelnes, Thatsächliches in sich ein, worauf doch immer jedes Wirken hinzielen muß. Denn nur seinem einzelnen wirklichen Sein nach ist etwas gut. Bezeichnend nennt Thomas dieses Aufleuchten und das Wollen des geistigen Willens „Thätigkeit.“ Denn das Selbständige, das thatsächlich Wirksame im menschlichen Handeln hat da seinen Quell und Ursprung. Woher kommt das Moment des „Einzelnen“? Nicht von innen; nicht von der Gewalt des Wirkenden; es steht außerhalb des Wirkenden; es kommt von außen. Sein Einwirken auf den Menschen ist vielmehr ein „Leiden“. „Leidenschaften“ nennt Thomas dies. Es ist der „Niedergang“ beim Psalmisten. Denn in diesem Einzelnen ist der leuchtende Grund nicht eingeschlossen, weshalb es geradeso im einzelnen ist und nicht anders, weshalb es gerade zu dieser Zeit oder an diesem Orte ist und nicht anderswo. Finsternis, Nacht ist im Gefolge dieses Einzelnen, wie die Leidenschaften es vermitteln, wenn ihm ohne weiteres gefolgt wird. „Wüste, unfruchtbare Berge“ nur entstehen, wenn den Leidenschaften des Hasses, des Ehrgeizes, des Zornes die endgültig bestimmende Gewalt eingeräumt wird. Denn bei den anderen sinnlichen Wesen setzt die Natur selber eine Schranke, daß sich der Einfluß von außen nicht zu sehr erhebe zum Nachteile des tierischen Wesens. Aber beim Menschen ist das Gegenteil der Fall. Da liegt in der Natur innen der Drang zum Endlosen, zum Grenzenlosen. Thomas sagt da so treffend an vielen Stellen: „Die Begierlichkeit an sich im Menschen hat keinen begrenzenden Zweck, hat kein Ende.“ Da kann sich die Leidenschaft erheben bergehoch und überwuchern alle edeln Triebe der anderen Fähigkeiten. „Wüste“ aber sind diese Berge; eben weil kein Ende zu finden ist. Der Mensch will immer mehr; und das Feuer der Begierde entbrennt in ihm in immer mächtigeren Flammen, je mehr er empfängt, was er begehrt; es dorrt aus den Boden der Seele, der so süße Früchte hätte bringen können. Wie nun aber sollen die „Thätigkeiten“ im Menschen, die schlechthin auf das Allgemeine gehen, verbunden werden mit den „Leidenschaften“ für das rechte menschliche Wirken, die ihrem Wesen nach nur auf Einzelnes sich richten; damit „heilige Berge“ entstehen, wo Alles beim Gastmahle Platz hat, wo alle Fähigkeiten insgesamt emporsteigen zu wonnigem Festjubel, wo Früchte in aller Schönheit und Ergötzlichkeit dem Boden entsprossen? Bei Thomas öffnet sich hier der Weg für die Tugenden. Er begründet sie mit der Notwendigkeit, daß die Vermögen der Vernunft und des Willens erst vorher etwas in sich haben müßten, wodurch sie auf Einzelnes hin gerichtet würden; denn von ihrer Natur aus seien sie ganz gleichgültig, durchaus offen für Alles schlechthin. Von den Leidenschaften aber darf die Bestimmung im freien Akte nicht ausgehen. Denn das wäre Zwang; insofern die Leidenschaften Einflüssen von außen her allein ihr Dasein verdankten und sonach nicht die dem menschlichen Handeln gebührende Selbständigkeit mitbegründen oder nur damit nach der eigenen Richtschnur bestehen könnten; es sei denn daß der Mensch selbst einen solchen Zwang wollte, wie dies bei der Sünde der Fall ist. Die Tugenden also müssen 1. die Selbständigkeit des menschlichen Handelns vertiefen und dieselbe für den einzelnen Fall praktisch oder sie zu einer thatsächlichen machen; — und 2. müssen sie auf einen beschränkteren Seinskreis sich richten, damit sie nach und nach die Brücke werden zum strikt Einzelnen hin. Zweierlei ist von ihnen ausgeschlossen: Sie dürfen nicht etwas ganz und gar Einzelnes in ihrer Natur geradezu einschließen, so daß sie auf kein anderes einzelnes Gut sich richten könnten; deshalb sagte Thomas oben „die Tugend sei nicht die Thätigkeit selber, das sei nur Gott“; — und dann müssen sie innerhalb des handelnden Subjekts sein; deshalb nennt sie Thomas: „innerliche Principien“ im Gegensatze zu den Gesetzen, die sich von seiten des Gegenstandes halten und deshalb „äußerliche Principien“ genannt werden. Zu jedem einzelnen, wahrhaft menschlichen Akte ist also ein sogenannter Zustand notwendig, behauptet Thomas des öfteren. Denn das allgemeine Vermögen kann an sich betrachtet nicht handeln; und das Einzelne, was von sich aus außen einwirkt, schließt in sich keinen selbständigen Grund ein; kann also kein Motiv abgeben für menschliches Handeln. Der Zustand im Vermögen nun ist die Verbindung zwischen den „Akten“ oder Thätigkeiten, wie sie an und für sich dem vernünftigen Willen entsprechen und den „Leidenschaften“, wie dies der Notwendigkeit entspricht, daß der Akt auf ein einzelnes Gut sich richtet. Da erwächst jedoch die Schwierigkeit: Wenn ein Zustand, wie Thomas oben auseinandersetzte, von der Thätigkeit oder dem Akte erzeugt wird; und kein solcher Akt geschehen kann, ohne daß ein Zustand vorhanden ist; — wie ist dann aus diesem Zirkelschluß herauszukommen oder wie vollzieht sich die erste Thätigkeit? Die Antwort hat der Psalmist gegeben: „Denn Gott ist der Richter.“ Und Thomas stimmt mit ihm überein: „Aus solchen Thätigkeiten können Zustände erzeugt werden; nicht zwar mit Rücksicht auf das erste thätige Princip, sondern von jenem Princip der menschlichen Thätigkeit, welches einerseits in Thätigkeit gesetzt ist (motum) und andererseits in Thätigkeit setzt (movet).“ Das erste bewegende Princip also, die erste wirkende Ursache, der reinste Akt setzt zuerst den Willen in Bewegung und dieser drückt durch diese Thätigkeit bereits in sich selbst den betreffenden Zustand d. h. die Richtung auf den betreffenden besonderen Seinskreis ein; wovon dann alle folgenden Thätigkeiten abhängen, die von sich aus einerseits vom Zustande ausgehen und andererseits dessen Stärkung wieder zur Folge haben. Ein Unterschied tritt nur ein beim unmittelbaren Einwirken Gottes auf die Bildung und Formung des Vermögens selber; wenn dieses nämlich nicht vermittelst der Willensthätigkeit geformt wird. Denn im letzteren Falle bleiben wir im Bereiche der Natur und diese wirkt durch den Willensakt mit zur Bildung des Zustandes. Dieser erste Willensakt selbst, resp. seine Inthätigkeitsetzung, ist niemals in der Gewalt des Wollenden; denn er schließt den Grund für seine Richtung nicht in sich ein. Dieser Willensakt ist vielmehr die Quelle des bethätigten Willensvermögens als eines bethätigten, damit er selber frei wäre und sonach dem Willen zugehörte. Bei der Gnade aber oder den eingegossenen Tugenden ist nicht allein die erste Inthätigkeitsetzung des Willens, sondern der Zustand, resp. die Tugend an sich mit ihrer Richtung auf einen einzelnen Seinskreis, unmittelbar von Gott; und somit hat der Mensch da bereits den bestimmenden Grund für den ersten freien Akt in seiner Gewalt. Das Vermögen in seinem eigensten Innersten ist da von Gott durch die Tugend gehoben; und so gestärkt hat es in ich das betreffende Können für den einzelnen Akt. Vermittelst der Gnade wird der Mensch somit freier, hat sein Handeln mehr in seiner Gewalt; weil eben Gott, der Freie dem Wesen nach, näher ist und tiefer einwirkt und somit auch mehr zu eigen macht. Wir begnügen uns, nur hinzuweisen auf die Wichtigkeit, welche die Lehre über die Zustände, wie Thomas sie hier giebt, für die Lehre von der Gnade und von der Erbsünde hat. Es ist da von einer erhöhten oder erniedrigten Natur an sich keine Rede. Die Natur, resp. die Vernunft und der Wille, bleibt in jedem Falle offen für das Endlose; sie leugnet, im Bereiche des Geschaffenen, thatsächlich Begrenzten, ihren Endzweck zu haben. Aber die Zustände gehen, wie oben Thomas sagte, „auf eine Thätigkeit, die einer höheren Natur entspricht oder dem niedrigen Teile der Natur im Menschen.“ Und wird hier von einer „Natur“ gesprochen, wie Paulus sagt: sumus naturâ filii irae, so steht das Wort hier gemäß der betreffenden Erklärung des heiligen Thomas im Sinne, wonach die Gewohnheit eine „zweite Natur“ genannt wird. Die Gnade verbindet eben die Eigentümlichkeiten beider Arten von Zuständen, die oben Thomas gekennzeichnet hat; jener nämlich, die auf die Natur des Dinges sich richten, und derer, die auf die Thätigkeit gehen. Denn sie richtet als Zustand im Menschen auf jene reinste Thätigkeit, welche ihre eigene Natur ist, und an der wir als einer Natur Anteil haben sollen, wie Petrus verkündet; nämlich auf Gott. Hätte man diese Artikel des heiligen Thomas über die Zustände, zumal in der Moraltheologie, nie vernachlässigt, so würde man sich nicht so sehr ins Einzelne verloren haben, was bei vielen Moraltheologen nun die Hauptsache ist. Thomas baut aus allen Principien im Menschen seinen freien Akt zuvörderst auf; und dann erst giebt er sich an die Bestimmung des moralischen Wertes besonderer Akte. Thomas kann dann aber auch aus inneren Principien heraus Moralfragen, soweit sie einzelne Akte betrifft, und deshalb mit Sicherheit und nicht allein mit bloßer Wahrscheinlichkeit lösen. Dagegen ist die moderne Moraltheologie oft genug gezwungen, nur aus äußeren Gründen, mit Zuhilfenahme von Gesetzregeln, die nicht selten von einem ganz fremden Gebiete, dem rein juristischen, hergenommen sind, Fragen über Rechtmäßigkeit einzelner Handlungen zur etwaigen Entscheidung zu bringen, d. h. nur mit Wahrscheinlichkeit zu beantworten, während vom Gegenpart eben solch' äußere Regeln aus der Jurisprudenz beigebracht werden, welche für die gegenteilige Entscheidung sprechen. Der Traktat de actibus humanis gilt da als ein geschlossenes Ganze; und daran werden dann gleich immer Untersuchungen über Einzelfälle geschlossen. Dasselbe gilt dann vom Traktat de legibus, de virtutibus, als ob dies Alles abgeschlossen fur sich dastünde und das eine mit dem anderen nichts zu thun hätte. Dies Alles ist vielmehr ein Ganzes; und erst wenn dieses Ganze vollständig behandelt ist, darf über den moralischen Wert besonderer Fälle endgültig abgeurteilt werden. Und da möge man wohl berücksichtigen, wie Thomas die Rangordnung der bestimmenden Faktoren aufgestellt hat. Der Gegenstand von außen her, also das Einzelbestehende, hat wohl einen bestimmenden, die Gattung kennzeichnenden Wert; jedoch nur insoweit unter der Vernunft steht. Diese ist die leitende Richtschnur für den inneren Willensakt, so aber, wie dies Thomas noch in einem der letzten Artikel wiederholt hat, daß sie selber als Gegenstand des inneren Willensaktes den Zweck im einzelnen in durchaus maßgebender Weise berücksichtigt. So steht der äußere Gegenstand also als bestimmbar unter der Auffassung der Vernunft; diese als bestimmbar unter dem Zwecke d. h. unter dem Gesamtbesten des Wollenden. Wie aber wird nun der an erster Stelle maßgebende Zweck im einzelnen Falle vom Subjekte aus bestimmt? Es muß die freie Selbständigkeit im Wollenden bewahrt bleiben, wenn sein vernünftiger Wille der inneren Natur nach thätig sein und deshalb das einzelne Gut mit dem allgemeinen Besten verbunden werden soll. Da stehen nun die Tugenden da. Sie sind die Vermittlung, durch welche das Einzelne, welches in den Leidenschaften auf die Sinne einwirkt, ein Eigentum des handelnden Menschen und zum Besten dieses Menschen, insoweit alle seine Kräfte und Fähigkeiten in Betracht kommen, festgehalten wird. Wirkt Speise und Trank ein, so steht da an den Pforten der Seele die Mäßigkeit und nimmt mehr und mehr diesen einzelnen Eindruck, den Speise und Trank machen, für die Seele als deren Vervollkommnung in Beschlag. Wirkt Furcht und Angst ein, so steht da an der Pforte der Seele die Tugend der Stärke und bewirkt, daß die Leidenschaft immer weniger die Seele fortreißt, sondern vielmehr diese letztere zu ihrem eigenen Besten das, was Gutes im Eindrucke ist, behält und in sich beherrscht. Wirkt Zorn ein, so steht die Sanftmut da und macht, daß die Seele mehr und mehr den Eindruck für sich benützt, anstatt daß sie benützt wird. Und so werden die Tugenden um so vollkommener, je mehr sie gleich von Beginn den Eindruck der Leidenschaften je nach dem entsprechenden Grunde zum Besten des handelnden Menschen bestimmen und immer weniger gestatten, daß der Mensch fremden Zwecken diene. Sie befördern wahrhaft die Freiheit: nach der positiven Seite hin; indem sie den Menschen zum Herrn über das, was auf ihn einwirkt, machen und somit die Verfügung über das Äußerliche und über die eigenen Kräfte dem Menschen, immer nach dem Grunde, den die Vernunft vorlegt, erleichtern; — nach der negativen Seite hin; denn immer bleibt mit allen Tugenden insgesamt dem Menschen das Vermögen, von der guten Thätigkeit abzufallen; keine Tugend enthält in sich den hinreichend maßgebenden Grund für das Einzelnsein als solches. So weit überbrückt die Tugend die Entfernung vom Allgemeinen des Vermögens bis zum Einzelnen in den Leidenschaften nicht, daß mit der Tugend bereits die Thätigkeit selber gegeben wäre. Immer kann der Mensch auch gegen die in ihm bestehende Tugend thätig sein. Nichts stören somit die Tugenden. Alles bleibt in seiner Bedeutung: das allgemeine Vermögen als allgemeines; und der sinnliche Eindruck als einzelner. Nur geben sie dem Menschen die Leichtigkeit und, soweit es das thatsächliche Wirken anbelangt, die Möglichkeit, alles Einzelne zu seinem Besten frei und selbständig d. h. nach den in ihm selbst bestehenden Gründen zu benutzen und vermittelst dessen Alles zum „ultimus actus“, wie Thomas oben sagte, zur letzten Thätigkeit, nämlich zur Ruhe in Gott zu führen. Das ist der Zweck der Moral. Und nicht besteht er darin, daß man nur auf das Einzelne, Zufällige allein für sich blicke, und sehe, wie man einseitig das Recht des einzelnen Menschen und am Ende das Recht der Leidenschaften wahren könne. Bei jedem solcher Einflüsse handelt es sich darum: durch welche Tugend trägt er am besten bei zur freien Selbständigkeit und somit zum „ultimus actus“ des Menschen. Zum Thätigsein in ihm selber soll der Mensch die träge Außenwelt führen; nicht aber auf alle mögliche Weise Entschuldigungen suchen, wie er selbst in den Außendingen seine Ruhe finden könne. Thätig sein soll der Mensch zum „letzten actus“, zum reinen Sein und Wirken hin; und durch ihn soll thätig sein und nicht feiern die ganze Außenwelt. Man darf wohl, wenn man nur praktische Ratschläge für die Beichtväter geben will, wie dies in seiner Moraltheologie nach den eigenen Worten Liguori thun wollte, auf die einzelnen Fälle das Hauptgewicht legen. Dies darf aber nicht geschehen, wenn man ein System der Moraltheologie aufstellen will, worin nach innerlichen Principien, die von der Natur der Sache selbst, worum es sich handelt, ausfließen, über den moralischen Wert der Dinge selbständig geurteilt werden soll. Letzteres will Thomas hier ermöglichen. Und deshalb behandelt er so eingehend alle diese inneren Principien der menschlichen Wirksamkeit. Bei ihm werden die Tugenden zu jenen goldenen Schüsseln beim Gastmahle werden, von denen 2 Par. 9, 20. spricht. Denn wie die Schüssel es der darin enthaltenen Speise erst giebt, daß sie nun dem gehört und zu dessen Besten da ist, welcher die Schüssel benutzen soll; so macht auch die Tugend es, daß ein Einfluß von außen dem betreffenden handelnden Menschen eigen zugehört und zu dessen Besten dient. Und wie die Schüssel der darin befindlichen Flüssigkeit die Form giebt, so verleiht die Tugend der inneren Thätigkeit erst die dem Gesamtbesten des einzelnen und durch diesen dem Gesamtbesten aller dienende Form und Bestimmtheit. Golden sind diese Schüsseln. Denn der Glanz der einwirkenden göttlichen Kraft, der Glanz der ewigen Liebe leuchtet durch in den Tugenden, sie begründend und bewahrend. „Wie Musik beim Gastmahle“ (Ekkli. 49.); so sind diese Tugenden bei der Benützung der Außenwelt, beim Genusse selbst der vergänglichen Freuden. Denn sanfte Harmonie breiten sie aus in allen Kräften der Seele, über alle Gegenstände, die sie erfassen. Die Stärke stört da nicht die Sanftmut und die Barmherzigkeit nicht die Gerechtigkeit, die Mäßigkeit nicht die Demut; Alles wird benützt in innerer Freude und Ergötzen nach Maß und Gewicht, gemäß dem daß der ewige Zweck, der ultimus actus, die vollendete Seligkeit, wie Thomas sich gern ausdrückt, es will. Aber soll nun jeder fähig sein, an den Gedanken des heiligen Thomas sein Tugendwerk aufzubauen; die Leidenschaften und ihren Zusammenhang zu benutzen, wie er es dargethan! Soll jeder nun, was Thomas sagt, in sich nachdenken und so ein Tugendhafter werden! Er wüßte dann wohl die Tugend; — aber ist damit auch deren wirkliche Übung gegeben? Und wie wenige wären dann der Tugend fähig; wenn auch in dem Denken schon das Thun eingeschlossen wäre! Nein; die Tugend selbst verlangt, daß alle an ihr teilnehmen. Zum Gesamtbesten des All, „zur letzten Thätigkeit“, worin alles andere Thätigsein eingeschlossen ist, zu führen; — das begehrt sie. Je mehr wir die Auseinandersetzungen des heiligen Thomas prüfen und noch prüfen werden; desto inniger schließen wir uns an unseren Heiland, den menschgewordenen Gott an. Von Gott wird die Tugend in unserer Seele gewirkt. Die Tugend besteht nur darin, daß sie zum wahren Besten, zur Freiheit in Gott führt. Wie also wäre dann Gott in Person, wie Er in Christo erschienen ist, nicht das vollendete sichtbare Bild aller Tugend, und wie sollte Er mit seiner einzelnen gottmenschlichen Thätigkeit nicht das All der Kreaturen von den niedrigsten bis zu den höchsten umspannen! Er bietet in Sich selbst, der hehre Gottessohn, die Liebe am Kreuze, jenes heilige Gastmahl, von dem Er sagt: „Gehe an die Hecken und Zäune; und die Blinden und die Lahmen und die Preßhaften und die Armen lade ein zu meinem Gastmahle.“ Da können wir trotz unserer Armut, trotz unserer Blindheit, so niedrig wir auch immer sind, mehr und schneller Tugend lernen, wie Aristoteles und Plato bei all ihrer Weisheit. Da werden wir zu jenen Herrschern, von denen der Heiland sagt: „Das Reich Gottes ist in euch.“ Nicht vom „Aufgange“ der Vernunft, so glänzend er sein mag; und nicht vom „Niedergange“ der sinnlichen, stets vorübereilenden Wirklichkeit, so kräftig sie für den Augenblick einwirken mag, erwarten wir da unser Heil; und noch weniger „von wüsten Bergen“, so hoch sie auch emporragen. Mag Erniedrigendes kommen oder Erhöhendes; wir freuen uns im Frieden des Herzens allzeit. „Denn der Herr“ im Ratschlüsse seiner Weisheit, der Quell aller Freude und Selbständigkeit, „ist der Richter“, der allen Alles, jedem nach seinem Maße, zumißt. Hören wir nun Thomas: Nun wollen wir über die Zustände im besonderen handeln. Und weil die Zustände unterschieden werden gemäß dem Charakter von „gut“ und „böse“, der ihnen innewohnt, handeln wir zuerst über die guten, d. h. über die Tugenden und was mit ihnen zusammenhängt, nämlich die Gaben, Seligkeiten und Früchte; dann über die schlechten, d. h. über die Laster und Sünden. Was die Tugenden anbetrifft, so treten fünf Punkte hervor, die erwogen werden müssen: 1. ihr Wesen; 2. ihr Sitz oder Subjekt; 3. die Einteilung derselben; 4. ihre Ursache; 5. einzelne gewisse Eigenheiten.
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