Zweiter Artikel. Die Art und Weise der Mitte, welche in der Tugend liegt.
a) Es scheint, daß dies die Mitte in der Sache selber sei und nicht die Mitte, wie die Vernunft sie angiebt. Denn: I. Das Gute der Tugend besteht darin, daß sie in der Mitte liegt. Das Gute aber ist in den Dingen. Also muß diese Mitte in den Dingen selber gegeben sein. II. Die Vernunft ist eine auffassende Kraft. Die moralische Tugend aber liegt nicht in der Mitte der Auffassungen, sondern sie findet die Mitte in den Thätigkeiten und Leidenschaften. Also von der Vernunft her kommt nicht die Mitte, wie sie der Tugend eignet. III. Die Mitte, welche betrachtet wird nach Weise einer arithmetischen oder geometrischen Proportion, ist jene Mitte, wie sie in der Sache bereits vorliegt. Das ist aber die Mitte, wie sie der Gerechtigkeit eigen ist. (5 Ethic. 3.) Auf der anderen Seite sagt Aristoteles (2 Ethic. 6.): „Die moralische Tugend besteht in der Mitte, wie solche die Vernunft mit Rücksicht auf uns bestimmt.“
b) Ich antworte; daß die Mitte, welche von seiten der Vernunft bestimmt wird, entweder so verstanden werden kann, als ob die Thätigkeit der Vernunft selber zur richtigen Mitte zurückgeführt werden solle; und in dieser Weise, da die moralische Tugend nicht die Vernunft, sondern den begehrenden Teil vollendet, besteht sie nicht in der Mitte, welche auf seiten der Vernunft sich findet; — oder diese Mitte kann anders verstanden werden, als Mitte nämlich, welche die Vernunft in irgend einer Materie aufstellt; und so ist jede Tugend in der Mitte, wie die Vernunft sie bestimmt. Bisweilen jedoch ist die Mitte, wie die Vernunft sie bestimmt, auch die Mitte, welche in der Sache selbst bereits gegeben ist und sie wird somit nur richtig aufgefaßt von der Vernunft; wie das bei der Gerechtigkeit der Fall ist. Bisweilen dagegen ist diese Mitte von der Sache aus nicht gegeben, sondern wird erwogen mit Rücksicht auf uns; und so verhält sich die Mitte in allen anderen moralischen Tugenden. Der Grund dieses Unterschiedes ist der, daß die Gerechtigkeit sich beschäftigt mit den Thätigkeiten, welche in äußeren Dingen bestehen und in denen das Rechte schlechthin, ohne weiteres, bereits vorliegt und mit den Dingen und ihren gegenseitigen Naturen und Verhältnissen schon gegeben ist. Deshalb fällt hier die Mitte, welche die Vernunft ausfaßt, zusammen mit der Mitte, die von seiten der Sache bereits vorliegt, insofern nämlich die Gerechtigkeit einem jeden giebt, was geschuldet wird, nicht mehr und nicht weniger. Die anderen Tugenden aber befassen sich mit den inneren Leidenschaften, in denen das Rechte nicht von vornherein gegeben ist; sondern zu denen die verschiedenen Menschen sich in verschiedener Weise verhalten. Also wird hier die Bestimmung der Mitte der Tugend von der Vernunft abhängen, nämlich von der Rücksicht auf uns, auf die solche Leidenschaften Einfluß haben.
c) Damit ist die Antwort gegeben auf I. und II.) die vom Mittel sprechen, das für die Thätigkeit der Vernunft selber aufgestellt werden soll und auf III., wo man spricht von der Mitte, wie sie der Gerechtigkeit eignet.
