Dritter Artikel. Auch die Tugenden in der Vernunft liegen in der Mitte.
a) Das scheint nicht der Fall zu sein. Denn: I. Die moralischen Tugenden liegen in der Mitte, soweit sie der Richtschnur der Vernunft gleichförmig werden. Die Tugenden der Vernunft aber haben ihren Sitz in der Vernunft selber; und somit haben sie keine höhere Richtschnur. II. Die Mitte der moralischen Tugend wird bestimmt von jener in der Vernunft: „die Mitte, wie der Weise sie bestimmen wird“ sagt Aristoteles. Liegt also die Tugend in der Vernunft wieder in der Mitte, so muß sie wieder von einer anderen die Bestimmung für diese Mitte erhalten; und so wird es endlos weiter gehen. III. „Mitte“ setzt zwei Äußerste als den Gegensatz voraus. In der Vernunft aber ist kein Gegensatz; da selbst entgegengesetzte Dinge und Eigenschaften, wie weiß und schwarz, in der Vernunft zugleich verstanden werden und eine vermittelst der anderen. Auf der anderen Seite ist die Kunst eine Tugend in der Vernunft nach 6 Ethic. 3. „Der Kunst aber ist es eigen, eine Mitte zu haben“ wird 2 Ethic. 6. gesagt.
b) Ich antworte, das Gute für irgend welches Ding bestehe immer in der Mitte, in der Gleichförmigkeit nämlich mit seiner Regel und Richtschnür. Die Tugend aber in der Vernunft hat das Gute zum Zwecke, wie dies auch die moralische hat. Wie also sich die Tugend in der Vernunft zur Richtschnur verhält, so verhält sie sich zum maßgebenden Grunde der Mitte, die ihr eigen ist. Das Gute der Tugend der Vernunft nun ist das Wahre; das Wahre schlechthin für die beschauliche Tugend, das Wahre gemäß der Gleichförmigkeit mit dem rechten und geraden Begehren für die thätig wirksame (praktische) Tugend. Das Wahre schlechthin aber ist gemessen von der vorliegenden Sache, dem Gegenstande der Erkenntnis. (10 Metaph.) Denn weil die Sache sich wirklich so verhält oder nicht, deshalb ist unsere Meinung oder Rede wahr oder falsch. So ist also die spekulative oder beschauliche Tugend in der Mitte vermittelst der Gleichförmigkeit mit der Sache selbst, je nachdem sie sagt, daß etwas so ist, wie es wirklich ist, oder daß etwas nicht so ist, wie es in Wirklichkeit nicht ist. Das „zu viel“ ist hier das Falsche, womit behauptet wird, es sei etwas, was nicht in Wirklichkeit ist. Das „zu wenig“ ist das Falsche, womit behauptet wird, es sei etwas nicht, was in Wirklichkeit ist. Das Wahre der praktischen, wirksamen Tugend nun hat den Charakter des Gemessenen, wenn es mit der Sache, die vorliegt, in Vergleich gebracht wird; und so ist die Mitte da in derselben Weise wie in der spekulativen Tugend. Mit Rücksicht auf das Begehren aber hat das Wahre hier den Charakter des Maßes und der Richtschnur. Dieselbe Mitte also, welche der moralischen Tugend eigen ist, ist auch die Mitte für die Klugheit, nämlich die Geradheit der Vernunft; nur daß die Klugheit regelt und mißt und die moralische Tugend geregelt und gemessen wird.
c) I. Auch die Tugend in der Vernunft hat ihre Regel; und die Gleichförmigkeit mit ihr ist ihre Mitte. II. Ein endloses Vorgehen giebt es hier nicht. Die Regel der Tugend der Vernunft ist die verstandene Sache selbst. III. In der Vernunft ist, trotzdem da kein solcher Gegensatz sich geltend inacht, der das Gegenteilige vom Verständnisse ausschließt, doch der Gegensatz zwischen Bejahen und Verneinen. Denn Sein und Nichtsein stehen zwar, soweit die bezeichneten Dinge in Betracht kommen, im kontradiktorischen Gegensatze; einerseits nämlich ist Sein, andererseits Nichtsein. Soweit sie aber auf die Thätigkeit der Seele Beziehung haben, liegt Beidem etwas Positives zu Grunde, die Auffassung nämlich, auf Grund deren Beides ausgesagt wird. Da hört also der kontradiktorische Gegensatz auf. Viel mehr ist die Meinung, kraft deren ich behaupte, das Gute ist gut, konträr gegenüber, d. h. auf gemeinsamen positiven Fundamente, der Meinung, kraft deren ich behaupte: Das Gute ist nicht gut. Und in diesem Gegensatze bildet die Mitte die Tugend in der Vernunft.
