Erster Artikel. Die moralischen Tugenden liegen in der Mitte.
a) Das scheint nicht. Denn: I. Zur Natur der Tugend gehört, daß sie das „Äußerste“, das ultimum, sei des betreffenden Vermögens. II. Was im höchsten Grade groß ist, das steht nicht in der Mitte. Manche Tugenden aber richten sich auf etwas im höchsten Grade Großes; wie die Prachtliebe auf die größten Ausgaben. Also ist die Tugend nicht in der Mitte. III. Manche Tugenden streben nach dem Äußersten, wie die Jungfräulichkeit, die sich alles geschlechtlichen Vergnügens enthält; und Alles den Armen geben ist die vollkommenste Barmherzigkeit oder Freigebigkeit. Das Verträgt sich aber nicht damit, daß die Tugend ihrer Natur nach in der Mitte liegen soll. Auf der anderen Seite steht die bereits öfter angeführte Autorität des Aristoteles. (2 Ethic. 6.)
b) Ich antworte; die Tugend ordne ihrem Wesen nach den Menschen zum Guten hin. Die moralische Tugend vollendet aber den begehrenden Teil der Seele mit Rücksicht auf eine bestimmte Materie. Nun ist das Maß und die Regel der begehrenden Thätigkeit die Vernunft; und das Gute alles dessen, was gemessen und geregelt ist, besteht darin, daß es gleichförmig sei seiner Regel; wie das Gute in den Kunstwerken darin besteht, daß sie der Regel der Kunst folgen. Das Schlechte oder das Übel ist dann folgerichtig darin, daß etwas von seiner Regel abweicht, mag dies nach dem „zu viel“ oder nach dem „zu wenig“ hin geschehen. Also ist offenbar, daß das Gute der Tugend besteht in der Gleichförmigkeit mit der Regel der Vernunft; d. h. in der Mitte zwischen dem „zu viel“ und dem „zu wenig“.
c) I. Wird die moralische Tugend im Verhältnisse zur Vernunft als zu ihrer Regel betrachtet, so hat sie, insoweit sie ganz gleichförmig ist, den Charakter des einen „Äußersten“, nämlich der Gleichförmigkeit; das „zu viel“ und „zu wenig“ hat den Charakter des anderen „Äußersten“, nämlich der Ungleichförmigkeit. Wird sie aber betrachtet im Verhältnisse zu den Leidenschaften oder Thätigkeiten, die sie regelt, so hat sie den Charakter der Mitte, insofern sie die Regel der Vernunft auflegt und zu dieser Alles zurückführt. Deshalb sagt Aristoteles, „die Tugend halte nach ihrem Wesen die Mitte ein,“ insofern die Regel der Vernunft aufgelegt wird mit Rücksicht auf die entsprechende Materie der Tugend; „gemäß dem Besten“ oder „zum Besten hin“ bezeichnet ein Äußerstes, nämlich die Gleichförmigkeit mit der Vernunft. II. „Mitte“ und „Äußerstes“ werden in den Leidenschaften und Thätigkeiten gemäß den verschiedenen Umständen erwogen. Also kann ganz wohl in einer Tugend das Äußerste sein gemäß dem einen Umstände, was Mitte ist gemäß einem anderen, auf Grund eben der Gleichförmigkeit mit der Vernunft. Und so ist es bei der Prachtliebe und der Großmut. Denn wenn die Quantität der erstrebten Sache an sich betrachtet wird, nach welcher hinstrebt der Prachtliebende und Großherzige, so ist dies etwas in höchstem Grade Großes und ein Äußerstes. Wird aber dieses selbe betrachtet mit Rücksicht auf andere Umstände, so ist da die Mitte vorhanden; denn diese Tugenden streben nach diesem im höchsten Grade Großen gemäß der Regel der Vernunft d. h. wo und wann und weshalb es geziemt. Das „zu viel“ gilt hier, wenn diese letzteren Umstände nicht beachtet werden, und ebenso das „zu wenig“; wenn nämlich der betreffende Gegenstand erstrebt wird, wann, wo und wie es nicht sein scll. Deshalb sagt Aristoteles (4 Ethic. 3.): „Der Großherzige ist zwar am Äußersten, wenn die Größe betrachtet wird; er ist aber in der Mitte, wenn er thut, wie es sein soll.“ III. Dasselbe gilt von der Jungfräulichkeit und von der vollkommenen Armut. Man enthält sich da wohl alles Geschlechtlichen und alles Reichtums; jedoch geschieht dies, wie es sein muß, nämlich nach dem Gebote Gottes und dem ewigen Leben. Geschieht es aber infolge eines Aberglaubens oder der eitlen Ehre halber, so ist da ein „Zuviel“; und geschieht es nicht, wann es sein muß, so ist dies ein „zu wenig“, wie bei denen, die das Gelübde der Armut oder der Jungfräulichkeit übertreten.
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