Vierter Artikel. Die Gerechtigkeit ist unter den moralischen Tugenden die hauptsächlichste.
a) Dies scheint nicht. Denn: I. Mehr ist, jemandem vom Eigenen geben als ihm das Geschuldete erstatten. Das Erstere aber ist die Tugend der Freigebigkeit, das Letztere die der Gerechtigkeit. Also steht die erstere höher. II. Was das Vollkommenste in jeder Seinsart ist, scheint darin an der Spitze zu stehen. Von der Geduld aber heißt es Jakob. 1, 4.: „sie bringe mit sich ein vollkommenes Werk.“ III. „Die Großherzigkeit wirkt Großes in jeder Tugend;“ heißt es 4 Ethic. 3. Also thut sie dies auch in der Gerechtigkeit und somit ist sie größer. Auf der anderen Seite steht die Autorität des Aristoteles. (3 Ethic. 1.)
b) Ich antworte; größer oder kleiner kann eine Tugend ihrer Gattung nach genannt werden entweder schlechthin oder nach einer gewissen Seite hin. Sie wird „schlechthin“ größer genannt, je nachdem in ihr ein größeres Gut, soweit die Vernunft dies bestimmt, hervorleuchtet; und danach ist die Gerechtigkeit vor allen moralischen Tugenden hervorragend, weil am nächsten der Vernunft sowohl dem Gegenstande wie dem Subjekte nach: Dem Gegenstande nach; denn die Gerechtigkeit geht auf die Thätigkeiten, gemäß denen der Mensch nicht nur zu sich selbst in geordnete Beziehung tritt, sondern auch zum anderen; — dem Subjekte oder dem Träger nach, weil sie ihren Sitz im Willen hat, dem vernünftigen Begehren. Unter den übrigen moralischen Tugenden, welche mit den Leidenschaften sich beschäftigen, leuchtet um so mehr das Gute der Vernunft hervor, je größer die Bewegungen des sinnlichen Teiles sind, auf die sie sich richten und mit Bezug auf welche sie der Vernunft unterliegen. Das Größte nun in dem, was zum menschlichen Leben gehört, ist das Leben, von dem alles Andere abhängt. Und deshalb hält die Stärke, welche der Vernunft die Thätigkeit des sinnlichen Teiles unterwirft in dem, was auf Tod und Leben sich bezieht, unter allen Tugenden, welche sich mit den Leidenschaften befassen, die erste Stelle ein; jedoch unter der Gerechtigkeit. Darum sagt Aristoteles (1 Rhet. 9.): „Notwendigerweise müssen die größten Tugenden jene sein, welche von den anderen in höchster Ehre gehalten werden; insofern ja die Tugend eine vollkommene Macht ist. Und sonach ehrt man die Gerechten und Starken am meisten. Letztere nämlich, die Stärke, ist für den Krieg nützlich; die Gerechtigkeit aber für Krieg und Frieden.“ Nach der Stärke kommt die Mäßigkeit, welche der Vernunft das Begehren unterwirft in den Dingen, die unmittelbar zum Leben in Beziehung stehen sei es in ein und demselben, soweit die einzelne Person in Betracht kommt, sei es in ein und demselben, soweit die Gattung in Betracht kommt wie in den Speisen und geschlechtlichen Verhältnissen; und so werden diese drei Tugenden zusammen mit der Klugheit die hauptsächlichen genannt, auch in Ansehung ihrer Würde. Nach einer gewissen Seite hin aber ist eine Tugend die größere, je nachdem sie Hilfe leistet oder eine Zierde ist für die Haupttugend; wie die Substanz z. B. schlechthin höher steht im Range als die hinzutretenden Eigenschaften, die Accidentien, trotzdem aber eine solche Eigenschaft oder ein derartiges Accidens nach einer gewissen.Seite hin höher stehen kann als die Substanz, inwieweit sie diese letztere für ein hinzutretendes Sein vollendet.
c) I. Der Akt der Freigebigkeit ist gegründet auf den Akt der Gerechtigkeit; denn „freigebig würde jemand nicht sein, wenn er nicht vom Eigenen gäbe.“ (2 Polit. 3.) Also kann die Freigebigkeit nicht ohne die Gerechtigkeit sein, die das Eigene vom fremden Besitze unterscheidet. Die Freigebigkeit ist demgemäß nach einer gewissen Seite hin größer wie die Gerechtigkeit, denn sie ist eine Zierde derselben und vervollständigt sie; während die Gerechtigkeit als das Fundament schlechthin größer ist. II. Die Geduld bringt „ein vollkommenes Werk“ mit sich im Ertragen der Übel, wobei sie nicht nur ausschließt die ungerechte Rache, die von der Gerechtigkeit abgewiesen wird; und nicht nur den Haß, welchen die Liebe entfernt; und auch nicht allein den Zorn, welcher der Milde weicht; sondern ebenso die ungeregelte Trauer, die da ist die Wurzel der vorstehenden Leidenschaften. Deshalb und, darin also ist sie vollkommener und größer, weil sie in dieser Materie die Wurzel ausreißt. Aber nicht ist sie schlechthin vollkommener wie alle anderen Tugenden. Denn die Stärke erträgt nicht nur ohne in Verwirrung zu geraten die Mühseligkeiten, was der Geduld entspricht; sondern sie wird ihrer Meister und mischt sich siegreich unter sie, wenn dies nötig ist. So also ist, wer stark ist, auch geduldig, aber nicht umgekehrt. Die Geduld ist somit ein Teil der Stärke. III. Die Hochherzigkeit kann nur bestehen, vorausgesetzt daß die anderen Tugenden da sind, wie 4 Ethic. 3. gesagt wird. Sie ist also die Zierde der anderen; und so ist sie nach dieser Seite hin größer, nicht aber schlechthin.
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