Dritter Artikel. Das Verhältnis der moralischen Tugenden zu denen in der Vernunft.
a) Die moralischen Tugenden scheinen den Vorrang zu beanspruchen vor denen in der Vernunft. Denn: I. Was notwendiger und dauerhafter ist, das ist besser. Dies ist aber der Fall mit den moralischen Tugenden; sie sind dauerhafter wie die verschiedenen Wissenszweige und notwendiger für das menschliche Leben. II. Zum Wesen der Tugend gehört, daß sie zu einem guten mache den, der sie hat. Nicht aber nach den Tugenden in der Vernunft wird jemand als ein guter Mensch bezeichnet. III. Der Zweck steht höher wie das Zweckdienliche. Nach 6 Ethic. 12. aber macht die moralische Tugend die rechte auf den Zweck gerichtete Meinung; die Klugheit regelt die Wahl inmitten der zweckdienlichen Dinge. Also stehen die moralischen Tugenden höher. Auf der anderen Seite hat die moralische Tugend ihren Sitz in dem, was nur am Vernünftigen Anteil hat; die Tugend der Vernunft aber ist in dem, was dem Wesen nach vernünftig ist. Letzteres nun steht höher wie das Erstere. Also stehen auch die Tugenden in der Vernunft höher wie die moralischen.
b) Ich antworte; es kann etwas schlechthin besser sein, wie z. B. das Philosophieren besser ist wie das Reichwerden, was jedoch nach einer gewissen Seite hin nicht besser ist, wie das Geldgewinnen für den besser erscheint, der bedürftig ist. „Schlechthin“ aber wird etwas von einem Subjekte ausgesagt in Ansehung der eigensten Wesenheit seiner Gattung. Nun hat die Tugend ihr Gattungswesen vom Gegenstande her. Welche Tugend also einen höher stehenden Gegenstand hat, auf den sie sich richtet, die ist schlechthin besser. Nun ist der Gegenstand der Vernunft offenbar besser wie der Gegenstand des Begehrens. Denn die Vernunft erfaßt das Allgemeine im Dinge, das Begehren richtet sich nur auf das Einzelsein als solches. Also sind schlechthin betrachtet, d. h. ihrer Gattung nach. die Tugenden in der Vernunft besser wie die moralischen, welche das Begehren vollenden. Wird jedoch die Tugend erwogen nach der Seite der Thätigkeit hin, so ist die moralische Tugend als die das Begehren vollendende, von wo aus alle Vermögen in Thätigkeit gesetzt werden, besser wie die in der Vernunft und steht an Würde höher. Und weil ein Zustand deshalb Tugend genannt wird, weil er als Vollendung des Vermögens das Princip einer Thätigkeit ist, so folgt, daß die Natur und das Wesen der Tugend mehr den moralischen zukommt wie denen in der Vernunft, wenn auch dem inneren Gattungswesen allein nach angesehen die letzteren schlechthin höher stehen.
c) I. Weil die moralischen Tugenden als zum gewöhnlichen Leben gehörend, mehr geübt werden, sind sie dauerhafter wie die der Vernunft. Offenbar aber sind die Gegenstände der verschiedenen Wissenszweige an und für sich, als ihrer Natur nach notwendig und immer ein und dieselben bleibend, dauernder, wie die Gegenstände der moralischen Tugenden, die da einige besondere Wirksamkeiten sind. Daß aber die letzteren notwendiger sind für dieses Leben hier, das zeigt nicht, daß sie im allgemeinen höher stehen, sondern das zeigt deren Notwendigkeit für diesen besonderen Umstand. Vielmehr sind deshalb eben daß die beschaulichen Tugenden in der Vernunft nicht zu etwas Anderem hingeordnet, werden, wie das Nützliche zum Zwecke, dieselben höher und würdiger. Gemäß ihnen nämlich beginnt in uns die Seligkeit, die da ist das Schauen der Wahrheit. II. Weil die moralische Tugend das Begehren vollendet und dieses alle anderen Vermögen in Thätigkeit setzt, deshalb wird ein Mensch kraft der moralischen Tugend als ein guter bezeichnet. Also nur nach dieser Seite hin sind sie besser. III. Die Klugheit leitet nicht nur in der Auswahl des Zweckdienlichen, sondern stellt auch den Zweck selber vor. Der Zweck aber einer jeden Tu gend ist, die Mitte zu erreichen in der eigens entsprechenden Materie; und diese Mitte wird bestimmt gemäß der Klugheit.
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