Sechzehntes Kapitel. Die Wahrheit Gottes. Überleitung.
Es mag jemand schon viele Male der feierlichen Komplett beigewohnt haben; immer bleibt es ein tief ins Herz greifender Augenblick, wenn nach den prachtvollen und majestätischen Psalmentönen eine helle klare Knabenstimme langsam und feierlich den Wechselgesang intoniert, daß er durch die ganze Kirche bis in die Herzen der GIäubigen hineinklinge: „In Deine Hände befehle ich meinen Geist, o Herr; Du hast mich erlöst, Herr, Gott der Wahrheit.“ Das trostreiche: „Da ich zu Ihm rief, hat mich erhört der Gott der Gerechtigkeit; in der Versuchung hat Er mein Herz erweitert;“ — das gebetsinnige: „Auf Dich, Herr, habe ich gehofft, laß mich in Ewigkeit nicht zu Schanden werden; befreie mich in Deiner Gelechtigkeit;“ das triumphierende: „Wer im Beistande des Höchsten sein Heim hat; unter dem Schutze des Gottes der Himmel wird Er verweilen;“—das frische, danlvolle: „Siehe da; nun preiset den Herrn, alle Knechte des Herrn,“ ist verklungen. Wie glühende Pfeile sind die erhabenen Worte dieser Psalmen mitten aus der Versammlung der Heiligen nach oben gedrungen. Getragen von neuem, tief gekräftigtem Vertrauen auf Gott hat das christliche Volk zu Gott dann seine Hände erhoben, um neue Gnaden, neuen Schutz zu erbitten. Es hat gesungen: Nun geht das Tageslicht zu End', Herr, unser Schöpfer, sieh', wir fleh'n Nach Deiner milden, Gütigkeit, Sei uns zum Schutz und Hell bereit. Die bösen Träume seien fern, Unreine Bilder sollen flieh'n Und unsre Feinde stoß‘ zurück. Daß unsre Körper bleiben rein. Das gieb, o Vater aller Macht. O Sohn, der ganz dem Vater gleich, Du unser Trost, o heil'ger Geist, Der herrscht in alle Ewigkeit. Der Priester hat im Namen der Kirche das Flehen des Volles geweiht. Er hat laut die Macht Gottes gepriesen mit den Worten des Propheten. In heiliger Abendstille erklang es von seinen Lippen: „Du aber bist in uns, o Herr, und Dein helliger Name ist angerufen über uns: verlasse uns nicht, Herr unser Gott.“ Da ertönt es von Kinderlippen, „denn aus dem Munde der Kinder hat Er Sich Lob bereitet;“ — es klingt wieder in den weiten Hallen und jeder der Gläubigen bringt gleichsam die Werke des Tages dem Herrn dar und empfiehlt sich für Leben und Tod dem Allwaltenden: „In Deine Hände, o Herr, befehle ich meinen Geist; errette mich Herr, o Gott der Wahrheit.“ In welch bessere Hand können wir so am späten Abende unsere Werke niederlegen als in die Hand jenes Gottes, der sich vorzugsweise den „Gott der Wahrheit“ nennt! Wo wäre ein Platz so weit, so schön, so fest, so stark, wie die ewige Wahrheit. Darauf schaue hin, Christ, in den schweren Trübsalen des irdischen Lebens! Die Wahrheit leitet alles. Alles, was geschieht, ausgenommen die Sünde in sich betrachtet, ist Wahrheit. Gott ist dem Wesen nach Wahrheit. Was aber ist die Wahrheit? Übereinstimmung von Schein und Sein; Einheit von Zweck und Mittel, von Wesen und Wirklichkeit, von Rede und That. Gott leitet Alles; Er „schickt seine Engel, daß dein Fuß an keinen Stein stoße“. In seinen Ideen sind die Vorbilder deiner geringsten Gedanken, aller deiner kaum gesprochenen Worte. E r giebt selber die Kraft, um danach dich zu bilden. Er bewirkt, daß du dies frei aus dir heraus mit aller Selbständigkeit thust. Er wird dir nichts senden, was nicht ein Mittel ist zum letzten Zwecke; was da nicht ausdrücken soll nach außenhin seine innere Herrlichkeit; was nicht in Ihm, der Wahrheit selber, seinen Halt hat und somit auch Halt und Dauer gewähren kann. Die Menschen denken sich unter Gott, — und so ist es ihnen durch die Natur selber eingeprägt —: das Allermächtigste; in der größten Not rufen sie Ihn wie instinktmäßig an; Er soll helfen, wenn niemand es mehr kann. Das Allerweiseste, den Urheber aller Ordnung und alles Zusammenwirkens; das Allgütigste und Allbarmherzigste, aber auch zugleich die unverletzbare Gerechtigkeit selber stellen sie sich unter Ihm vor. An Gott, wie an den Felsen der Ewigkeit, wo kein Wandel, kein mehr und minder, kein vor und nach mehr möglich, richtet sich in allem Leid auf, oft unbewußterweise, ihr letzter Mut;. --- und setzen wir leider hinzu, auch ihr Murren bricht sich schließlich an diesem Felsen und wird im Innern zu verzehrendemZorn. Entspricht dem Allem, entspricht solch hohen Ideen das Dasein Gottes? Vermehre diese Macht soweit du willst, erhebe diese Weisheit, soviel du willst; über alles was an Vollkommenheit gedacht werden kann, ist Gott erhaben. Er ist die Wahrheit. Was Er selbst ins Menschenherz gelegt. hat, daß es über Ihn denke, alles Vollkommene, das ist Er; und Er ist es weit darüber hinaus. Sein Wesen ist die Wirklichkeit selber. Wie Er erscheint in den Kreaturen, so ist Er auch in Sich. Schein ist in Ihm nicht getrennt vom Sein; nicht das Wesen von der Wirklichkeit, daß Er mehr sein könnte, als Er ist, mehr wollte, als Er Kraft hat. Er ist der Zweck von allem; Er zeichnet jeglichem in dessen Natur die Mittel vor, um angemessen den Zweck zu erreichen. Er verleiht noch über die Natur hinaus Macht und Kraft seinen Geschöpfen, daß ihr Streben nicht vergeblich sei. Wohin auch immer gesehen wird: Er ist nicht nur die Wahrheit, nein, Elr ist deren unerschöpflicher Born. Alle Wahrheit ist nur dann Wahrheit, insoweit sie an Ihm teilnimmt; so wie alles Sein durch Ihn allein Sein ist. Die Dinge nehmen an der Wirklichkeit nur teil, insoweit Gott sie ihnen giebt, der alle Wirklichkeit dem Wesen nach ist; während die Dinge ihrem Wesen nach nur Möglichkeit besitzen, thatsächlich zu sein. Die Dinge nehmen demnach auch an der Wahrheit teil, soweit die ewige Wahrheit es ihnen verliehen hat, welche die Wahrheit dem Wesen nach ist. Und Gott erkennt auch, daß Er die Wahrheit ist; und daß alles Andere allein von Ihm Wahrheit hat. Alle Wahrheit in der Kreatur liegt vor seinen Augen. In nichts kann Er betrogen werden, so wie Er in nichts betrügen kann. Eher verliert das Licht sein Leuchten; das Feuer seine Wärme, ehe die Worte Gottes auch nur ein Pünktchen an Wahrheit einbüßen. Sein Wort bleibt in Ewigkeit. Von Ewigkeit ward den Gerechten das Reich der Herrlichkeit bereitet. Sie werden es hören, daß wahr ist, was der Herr verheißen: „Gehet ein,“ so wird Er ihnen sagen, „in das Reich, das euch bereitet ist, ehe die Welt war.“ Ewige Strafe ist den unbußfertigen Sündern angedroht. Und mögen sie auch jetzt aus eigener Schuld sich täuschen und gern daran zweifeln; sie werden schrecklich aufgerüttelt werden, denn ihnen gilt das Wort des Herrn: „Gehet, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, welches (ihr Unglückseligen, nicht euch in erster Linie, sondern) dem Teufel bereitet ist.“ überall wird dann auch äußerlich erscheinen, was Er von Ewigkeit her ist: der Gott der Wahrheit.
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