Fünfter Artikel. Nicht jede Sünde schlicht eine Thätigkeit ein.
a) Dies scheint trotzdem der Fall zu sein. Denn: I. Wie das Verdienst sich zur Tugend verhält, so die Sünde zum Laster. Ein Verdienst aber hat nicht statt, ohne daß damit irgend welcher Akt verbunden sei. Also besteht auch keine Sünde ohne Thätigkeit oder Akt. II. Augustin (3. de lib. arb. 18.; de vera Rel. 14.) sagt: „Die Sünde ist derart freiwillig, daß wo nichts Freiwilliges ist, da auch keine Sünde sich findet.“ Etwas Freiwilliges aber ist unmöglich ohne eine gewisse Thätigkeit. Also besteht ohne solche kein Akt. III. Wäre eine Sünde vorhanden ohne eine Thätigkeit, so würde folgen, daß jemand dadurch eben sündigte daß er einen gebührenden Akt nicht mehr fortsetzt. Jener aber, welcher niemals den gebührenden Akt setzt, der setzt denselben auch nicht fort. Also würde folgen, daß er beständig sündigte, was falsch ist. Also besteht keine Sünde ohne irgend welchen Akt. Auf der anderen Seite sagt Jakobus 4, 17.: „Für jenen, der da weiß das Gute, was er zu thun hat und es nicht thut, ist dies eine Sünde.“ Also daß jemand nicht wirkt, kann Sünde sein.
b) Ich antworte; diese Frage betreffe hauptsächlich die Unterlassungssünden, worüber verschiedene Ansichten bestehen. Denn die einen sagen, in jeder Unterlassungssünde sei immer ein positiver Akt vorhanden, sei es ein innerlicher sei es ein äußerlicher; wie wenn jemand will nicht zur Kirche gehen, da er doch gehen sollte; — oder wenn jemand zu jener Stunde, da er doch zur Kirche gehen sollte, mit solchen Dingen sich beschäftigt, die ihn vom Kirchgange abhalten; was allerdings gewissermaßen mit dem ersten Falle zusammenfällt, außer etwa falls er vorher nicht erwägt, daß er durch seine unternommene Beschäftigung vom Besuche der Kirche abgehalten werde, wo dann eine schuldvolle Nachlässigkeit vorläge. Andere aber meinen, es werde für die Unterlassungssünde keinerlei Akt erfordert; denn dadurch selbst daß jemand das nicht thut, wozu er gehalten ist, sündige er. Beide Meinungen sind je nach einer Seite hin wahr. Denn wenn als Unterlassungssünde jenes Moment allein verstanden wird, was seiner Natur nach zur Sünde gehört, so ist bisweilen die Unterlassungssünde zusammen mit einem innerlichen Akte, wie z. B. wenn jemand will nicht zur Kirche gehen; bisweilen aber ist sie ohne einen solchen, wie wenn jemand zur gegebenen Stunde gar nicht daran denkt, zur Kirche zu gehen. Werden jedoch bei der Unterlassungssünde berücksichtigt auch die Ursachen und Gelegenheiten für die Unterlassung, so muß in einer solchen sich immer ein positiver Akt finden. Denn nur dann besteht hier eine Sünde, wenn jemand unterläßt das, was er thun oder nicht thun kann. Daß aber jemand unterläßt das, was er thun oder nicht thun kann, kann nur von einer Ursache oder von einer Gelegenheit herrühren, die entweder vorhergeht oder begleitet. Ist nun diese Ursache nicht in der Gewalt des Menschen, so hat die daraus folgende Unterlassung nicht den Charakter der Sünde, wie wenn jemand krank wird und so nicht zur Kirche gehen kann. Ist aber diese Ursache oder Gelegenheit in der Gewalt des Menschen, so ist die betreffende Unterlassung Sünde; und dann muß die Ursache immer, insoweit sie freiwillig ist', eine gewisse Thätigkeit einschließen, zum mindesten einen inneren Willensakt. Diese Thätigkeit nun hat bisweilen direkt zum Gegenstande die Unterlassung selber; wie wenn jemand will nicht zur Kirche gehen wegen der Mühe, die es kostet. Und dann gehört solche Thätigkeit an und für sich oder direkt zur Unterlassung; denn irgend welche Sünde zu wollen, gehört zum Wesen dieser Sünde, eben weil die Sünde etwas Freiwilliges ist. Bisweilen aber ist nicht die Unterlassung selber, sondern etwas Anderes der Gegenstand des Wollens, und dadurch wird dann der Mensch abgehalten vom gebührenden Akte; sei es nun daß der Gegenstand des Wollens die Unterlassung begleitet, wie wenn zur Zeit daß er zur Kirche gehen soll, er ein Spiel anfangen will, sei es daß der Gegenstand des Wollens etwas der Unterlassung Vorhergehendes ist, wie wenn jemand des Nachts lange wach bleiben will, woraus folgt, daß er am nächsten frühen Morgen nicht zur Kirche gehen kann. Dann verhält sich diese Ursache, wie etwas Zufälliges zur Unterlassung selbst; denn letztere folgt außerhalb der gehabten Absicht. Und so kann die Unterlassungssünde von einer Thätigkeit begleitet sein oder ihr folgen, welche sich wie etwas Zufälliges verhält zur Unterlassung. Ein Urteil aber über irgend welche Sache wird nicht gegeben gemäß dem, was zum Wesen dieser Sache hinzutritt, also für dieselbe zufällig ist; sondern gemäß der Natur der Sache, hier also gemäß der Absicht. Und deshalb wird mit mehr Wahrheit gesagt, es könne eine Unterlassungssünde bestehen ohne alle Thätigkeit; denn sonst würden zur Natur aller anderen Sünden ebenfalls gehören die Ursachen oder Gelegenheiten der Sünde.
c) I. Mehr wird für die Vollendung des Guten erfordert wie für die Vollziehung des Bösen; denn, „damit etwas gut sei, muß die Ursache vollständig vorhanden sein und darf nichts fehlen; jeglicher Fehler aber ist bereits Ursache des Übels,“ heißt es 4. de div. nom. Sünde also kann es sein, wenn jemand thut, was er nicht darf; und ebenso, wenn er nicht thut, was er soll. Ein Verdienst aber existiert nur dann, wenn jemand freiwillig thut, was er thun soll; das kann also nicht ohne irgend einen Akt sein. II. „Freiwillig“ geschieht auch das, was in unserer Gewalt ist, daß es geschehe oder nicht geschehe. (3 Ethic. 5.) Also auch das Nicht-Wollen ist freiwillig, insofern es in unserer Gewalt ist, zu wollen und nicht zu wollen. III. Der Unterlassungssünde steht entgegen das affirmative Gebot, welches eine gewisse Sache vorschreibt. Ein solches Gebot jedoch verpflichtet wohl immer, nicht aber für immer, so daß man nämlich fortwährend das thun müßte, was es vorschreibt. Dann also sündigt jemand, wenn er etwas unterläßt zu der Zeit und unter den Umständen, wo das affirmative Gebot vorschreibt.
