Sechster Artikel. Die Sünde ist ein Wort oder eine That oder ein Begehren gegen das göttliche Gesetz.
a) Diese Begriffsbestimmung scheint nicht zukömmlich zu sein. Denn: I. Nicht jede Sünde schließt eine Thätigkeit ein, wie diese Definition es verlangt. II. Augustin (de duab. animab. 11.) sagt: „Die Sünde ist der Wille zu behalten oder zu erlangen, was von der Gerechtigkeit verboten ist.“ Der Wille aber ist ein Begehren. Also genügt es zu sagen „ein Begehren gegen“ etc. III. Die Sünde ist in erster Linie ein Abwenden vom Zwecke; und deshalb desiniert Augustin (1. de lib. arb. ult.) die Sünde wie folgt: „Sündigen ist nichts Anderes wie dem Zeitlichen anhängen mit Vernachlässigung der ewigen Dinge;“ und (83 Qq. 38.): „Die ganze menschliche Verkehrtheit besteht darin, zu genießen, was man nur als zweckdienlich gebrauchen; und zu gebrauchen, was man genießen soll.“ In der hier fraglichen Desinition aber wird der Zweck gar nicht erwähnt. IV. Verboten ist etwas, weil es dem Gesetze zuwider ist. Nicht alle Sünden aber sind deshalb übel, weil sie verboten sind; sondern manche sind verboten, weil sie übel sind. Also darf man nicht so allgemein setzen: „gegen das Gesetz Gottes.“ V. „Alles Übel des Menschen ist: gegen die Vernunft sein,“ heißt es 4. de div. nom. Also mußte lieber gesagt werden: „gegen die Vernunft“ als „gegen das ewige Gesetz.“ Auf der anderen Seite steht die Autorität Augustins. (22 contra Faust. 27.)
b) Ich antworte, die Sünde sei nichts Anderes als eine schlechte menschliche Thätigkeit. Daß überhaupt aber eine Thätigkeit eine menschliche sei, das kommt daher, daß sie freiwillig ist; sei es daß sie ein Willensakt selber sei oder eine vom Willen gebotene äußere Handlung, wie Sprechen oder Gehen. Und daß eine solche Thätigkeit schlecht sei, kommt daher daß sie der gebührenden Abmessung entbehrt, die immer mit Rücksicht auf eine gewisse Regel oder Richtschnur beurteilt wird. Nun ist die Regel des menschlichen Willens: die menschliche Vernunft selber als die nähere, gleichartige; und das ewige Gesetz, als die entferntere, gleichsam die Vernunft Gottes. Deshalb also setzt Augustin in diese Definition: 1. „Begehren, Wort oder That“ als das bestimmbare, materiale Moment; und 2. „gegen das ewige Gesetz“ als das bestimmende, formale, d. h. den Charakter der Sünde formende Moment.
c) I. Bejahen und Verneinen läßt sich immer auf die nämliche Seinsart zurückführen; wie in Gott das Gezeugtsein und Ungezeugtsein auf die Seinsart der Relation. Also ist es für hier dasselbe: Begehren und Nicht-Begehren etc. II. Die erste Ursache der Sünde ist im Willen, der alle freiwilligen Akte gebietet. Deshalb definiert Augustin manchmal die Sünde nur vermittelst des Willens. Da aber die äußere Thätigkeit auch als an und für sich betrachtet, schlechthin zur Substanz der Sünde gehört, so mußte in einer umfassenden Definition etwas stehen mit Rücksicht auf die äußere Thätigkeit. III. Vor Allem bezieht das ewige Gesetz den Menschen auf den Zweck, und danach auf das Zweckdienliche. Also wird die Abwendung vom Zwecke hier durch das „gegen das ewige Gesetz“ gekennzeichnet. IV. „Nicht jede Sünde ist ein Übel, weil sie verboten ist;“ wird vom Verbote des positiven, menschlichen Rechts verstanden. Mit Rücksicht auf das Naturrecht, dem ersten Teile des ewigen Gesetzes, ist jede Sünde ein Übel, weil sie verboten ist; denn deshalb ist ein Akt eben ungeregelt, weil er dem Naturrechte zuwider ist. V. Vom Theologen wird die Sünde vorzugsweise betrachtet als Beleidigung Gottes; vom Philosophen als zuwider der Vernunft; zumal in vielen Dingen, welche die Vernunft überragen, wir geregelt werden durch das ewige Gesetz wie dies in Allem der Fall ist, was den Glauben betrifft. Deshalb sagte Augustin lieber: „gegen das ewige Gesetz“ als „gegen die Vernunft.“
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