Zweiter Artikel. Nicht alles Gute der Natur kann von der Sünde hinweggenommen werden.
a) Das Gegenteil wird geltend gemacht: I. Das Gute der menschlichen Natur ist ein begrenztes, wie ja auch die Natur des Menschen selber begrenzt ist. Also kann es verzehrt werden, wenn davon ohne Unterlaß hinweggenommen wird. II. Wo in einem Dinge Alles von der gleichen Natur ist, da besteht der gleiche Grund für die Teile wie für das Ganze; wie bei der Luft, dem Wasser etc. zu sehen ist. Das Gute der Natur aber ist durchaus gleichförmig. Kann also ein Teil davon durch die Sünde hinweggenommen werden, so auch das Ganze. III. Die Hinneigung zur Tugend ist jenes Gute der Natur, das von der Sünde vermindert wird. In den Verdammten aber wird dieses Gute ganz fortgenommen; da sie ebensowenig, wie der Blinde zum Sehen, zur Tugend bekehrt werden können. Also kann die Sünde all dieses Gute fortnehmen. Auf der anderen Seite sagt Augustin (Enchir. 13.): „Das Übel ist gar nicht außer im Guten.“ Nun kann das Übel der Schuld nicht im Gute der Gnade sein oder im Gute der Tugend, da dieses ihm durchaus gegenübersteht. Also ist es im Guten der Natur; und somit wird dieses nie ganz von der Sünde fortgenommen.
b) Ich antworte, die Hinneigung der Natur zur Tugend sei jenes Gut, das von der Sünde vermindert wird. Diese Hinneigung kommt aber dem Menschen aus keinem anderen Grunde zu als weil er Vernunft hat; denn gemäß der Vernunft wirken heißt tugendhaft wirken. Da also durch die Sünde niemals es gänzlich dem Menschen genommen werden kann, daß er vernünftig ist, sonst wäre er ja nicht mehr zur Sünde fähig; so ist es auch unmöglich, daß das vorgenannte Gute gänzlich dem Menschen genommen werden kann. Wie aber dies geschehen kann, daß etwas Begrenztes ohne Ende vermindert werden kann, haben einige deutlich machen wollen auf folgende Weise. Wenn (nach 1 Physic.) von einer begrenzten Größe immer der gleiche Teil z. B. eine Elle hinweggenommen wird, so folgt wohl, daß nach und nach die ganze Größe fortfällt. Dies folgt aber nicht, wenn die Verminderung gemäß dem gleichen Verhältnisse, proportionell, geschieht und nicht gemäß dem gleichen Umfange des einzelnen Teiles. Wenn z. B. von einer Größe die Hälfte getrennt wird und von der Hälfte wieder die Hälfte u. s. w., so kann man bis ins Endlose teilen, so zwar, daß, was nachher abgezogen wird, immer kleiner ist als das, was vorher abgezogen wurde. Das erklärt aber im vorliegenden Falle gar nichts. Denn nicht minder nimmt die folgende Sünde vom Guten der Natur fort, wie die vorhergehende; sondern mehr, wenn sie schwerer ist. Deshalb muß man so sagen. Die vorgenannte Hinneigung zur Tugend steht in der Mitte zwischen zwei Dingen: 1. Sie ist begründet, wie in ihrer Wurzel, in der vernünftigen Natur; — und 2. strebt sie, wie nach ihrem Zielpunkte, nach dem Gute der Tugend. Nun wird sie, rücksichtlich der Wurzel nicht vermindert, denn, wie Art. 1. gesagt, vermindert die Sünde nicht die Natur selber. Rücksichtlich des Zielpunktes aber wird die Hinneigung vermindert; denn es werden Hindernisse dazwischen gestellt, damit sie ihr Ziel, die Tugend, nicht erreiche. Würde sie in erstgenannter Weise vermindert; so müßte das Gute der Natur bald ganz verschwinden, nachdem nämlich die vernünftige Natur selbst verschwunden wäre. Weil aber die Hinneigung vermindert wird von seiten des Zielpunktes her, insoweit Hindernisse dazwischen gesetzt werden, daß sie den Zielpunkt nicht erreiche, so kann sie bis ins Endlose vermindert werden, weil endlos viele Hindernisse dazwischentreten können. So kann also der Mensch ohne Ende Sünde zur Sünde fügen und demgemäß Hindernisse aufstellen zwischen der natürlichen Neigung und dem Besitz der Tugend; nicht aber verschwindet diese Neigung ganz und gar, weil die vernünftige Natur, die Wurzel dieser Neigung, immer bleibt. Ähnlich hat der durchscheinende Körper von da aus selber daß er von Natur durchscheinend ist die Hinneigung, das Licht, in sich aufzunehmen und so thatsächlich durchscheinend zu sein. Diese Hinneigung aber wird vermindert vermittelst der dazwischentretenden Nebel, obgleich sie immer unverändert bleibt in der Wurzel der Natur.
c) I. Nicht durch Abziehen geschieht hier die Verminderung, sondern durch Hinzufügen von Hindernissen; was nicht nimmt und nicht vermindert die Wurzel in der Natur. II. Die natürliche Hinneigung ist und bleibt in sich selbst durchaus gleichförmig. Jedoch hat sie verschiedene Beziehungen zur Wurzel und zum Zielpunkte; und danach wird sie einerseits vermindert und andererseits nicht. III. Auch in den Verdammten bleibt die naturliche Hinneigung; sonst bestände nicht in ihnen der Gewissensbiß. Sie wird aber nicht thatsächlich wirksam, weil die Gnade fehlt. Auch im Blinden bleibt ja die natürliche Fähigkeit zum Sehen, insofern diese sich in der Wurzel selber der Natur findet; denn es handelt sich um ein sinnbegabtes Wesen, was von Natur ein Sehvermögen hat. Es fehlt jedoch die Ursache, welche dieses Vermögen zu thatsächlichem Sehen bringen könnte, indem sie das dazu erforderte Organ gehörig bethätigte.
