Zweiter Artikel. Das ewige Gesetz ist allen bekannt.
a) Das scheint zu viel behauptet. Denn: I. 1. Kor. 2. heißt es: „Was Gottes ist, weiß niemand wie der Geist Gottes.“ Das ewige Gesetz aber ist innerhalb der göttlichen Vernunft. II. „Vermittelst des ewigen Gesetzes ist es gerecht, daß Alles im höchsten Grade geordnet sei,“ sagt Augustin. (1. de lib. arbitr. 6.) Nicht alle aber erkennen, wie Alles im höchsten Grade geordnet ist. III. „Über das ewige Gesetz können die Menschen nicht urteilen,“ schreibt wieder Augustin (de vera Rel. 31.): „Ein Jeder aber urteilt über das, was er kennt“ sagt Aristoteles. (1 Ethic. 3.) Also. Auf der anderen Seite schreibt Augustin (1. de lib. arbitr. 6.): „Die Kenntnis des ewigen Gesetzes ist uns eingeprägt.“
b) Ich antworte, daß etwas 1. in sich selber gekannt werden kann; und so kann nur Gott oder die Seligen das göttliche Gesetz erkennen; — 2. in seiner Wirkung, je nachdem darin eine Ähnlichkeit der wirkenden Ursache durchstrahlt, wie jemand, der die Sonne ihrer Substanz nach nicht kennt, sie trotzdem erkennt vermittelst der von ihr ausgehenden Strahlen. Und so kennt jede vernünftige Kreatur das ewige Gesetz. Denn jede Kenntnis der Wahrheit ist ein Ausstrahlen vom ewigen Gesetze und ein Teilnehmen an selbem, das da unverrückbare Wahrheit ist. Die Wahrheit aber erkennen in etwa alle, zum mindesten soweit es auf die ersten allgemeinen Grundprincipien des natürlichen Rechtes ankommt; und vom Übrigen weiß der eine mehr, der andere minder. Und demgemäß ist allen mehr oder minder das ewige Gesetz bekannt.
c) I. Was Gottes ist wird nach Röm. 1, 20. vermittelst der Wirkungen offenbar; wenn es auch nicht an sich geschaut wird. II. Keiner kann das ewige Gesetz voll erschöpfend begreifen, wenn auch jeder gemäß seiner Fassungskraft es erkennt. Denn es wird nicht in seiner ganzen Fülle offenbart durch die Wirkungen. Also braucht nicht jeder die ganze geregelte Ordnung der Dinge zu erkennen. III. Urteilen über etwas geschieht in zweifacher Weise: 1. wie jede Erkenntniskraft urteilt und unterscheidet betreffs des ihr eigenen Gegenstandes, nach Job 12.: „Unterscheidet nicht das Ohr die Worte und der Gaumen des essenden den Geschmack?“ Und danach gilt das Wort des Aristoteles, indem nämlich jeder urteilt, ob wahr ist das, was vorgelegt wird. Dann urteilt 2. der Obere über den Untergebenen, ob etwas so gethan werden müsse wie der Untergebene es thun will. Und in dieser Weise darf niemand urteilen über das ewige Gesetz.
