Zweiter Artikel. Jedes menschliche Gesetz leitet sich ab vom Naturgesetze.
a) Dies scheint nicht. Denn: I. Aristoteles sagt (5 Ethic. 7.): „Durch Gesetz bestimmtes Recht ist jenes, was im Anfange indifferent dafür ist, daß es so oder anders geschehe.“ In dem aber, was vom Naturgesetz kommt, ist von Anfang an nichts indifferent, ob es so oder anders geschehe. II. Das positive Recht steht als ein anders geartetes neben dem Naturrecht, nach Isidor (5 Etymol. 4.) und Aristoteles (I. c.). Was aber wie Schlußfolgerung sich ableitet von den allgemeinen Grundprincipien des natürlichen Gesetzes, das gehört mit zum Naturrechte. Also das menschliche Gesetz leitet sich nicht ab vom natürlichen Gesetze. III. „Das natürliche Gesetz hat bei allen die nämliche Bedeutung“ (5 Ethic. 2.); ist also überall dasselbe. Die menschlichen Gesetze aber sind überall verschieden. IV. Was von dem natürlichen Gesetze sich ableitet, davon kann ein Grund angegeben werden. Nicht aber von Allem, was seitens der Vorfahren gesetzlich festgestellt worden, kann ein Grund angegeben werden, nach lib. 1. ff. tit. 3. de leg. et seuatusc. Also nicht alle menschlichen Gesetze werden abgeleitet vom natürlichen. Auf der anderen Seite sagt Cicero (2. de invent.): „Die Dinge, welche von der Natur ausgegangen sind und welche die Gewohnheit gebilligt, hat die Religion und die Scheu vor den Gesetzen geheiligt.“
b) Ich antworte, „es scheine das ein Gesetz nicht zu sein, was nicht gerecht ist.“ (Augustin. 1. de lib. arbitr. 5.) Insofern also ein Gesetz gerecht ist, hat es Gesetzeskraft. Im Bereiche des Menschlichen aber wird etwas gerecht genannt, was der Regel der Vernunft gemäß ist. Nun ist die erste Regel der Vernunft das Gesetz der Natur. Also insoweit ein Gesetz vom Naturgesetze sich ableitet, hat es den Charakter und die Kraft eines Gesetzes. Weicht es von dieser Norm ab, so ist es kein Gesetz, sondern Verkehrtheit. Nun kann vom natürlichen Gesetze etwas sich ableiten entweder wie Schlußfolgerungen abgeleitet werden von Principien oder wie gewisse Anwendungen allgemeiner Grundsätze auf besondere Fälle. Nach der ersten Weise werden in der Wissenschaft Schlußfolgerungen aus den Principien abgeleitet; ähnlich der zweiten ist es, wenn der Künstler seine allgemeine Kunstform auf einen besonderen Stoff und besondere Verhältmsse anwendet. So leitet sich also Manches ab von den gemeinsamen Principien des Naturgesetzes wie Schlußfolgerungen; wie z.B. daß man nicht töten soll, abgeleitet werden kann von dem Princip, man solle anderen nichts Böses zufügen. Manches Andere leitet sich ab wie die Anwendung des Princips auf besondere Verhältnisse; wie z. B. das Naturgesetz einschließt, man müsse jenen, der sündigt, strafen; daß man ihn aber so oder so im einzelnen Falle bestrafe, das ist eine Anwendung des Naturgesetzes auf bestimmte, einzelne Fälle. Beiderseitige Art und Weise findet sich im menschlichen Gesetze. Nur hat das menschliche Gesetz, wenn es in der ersten Weise vom Naturgesetze sich ableitet, nicht nur aus sich selbst, sondern auch aus dem Naturgesetze seine Kraft; ist es in der zweiten Weise abgeleitet, so kommt seine Kraft rein aus der menschlichen Feststellung.
c) I. Aristoteles spricht da von jenen Dingen, die durch Gesetz festgestellt sind vermittelst besonderer Anwendung der Vorschriften des Naturgesetzes auf besondere einzelne Verhältnisse. II. Dies gilt von jenen Gesetzen, welche sich ableiten vom Naturgesetze wie Schlußfolgerungen. III. Die gemeinsamen Principien des Naturgesetzes können nicht immer und überall auf die gleiche Weise angewendet werden; und daraus kommt die Verschiedenheit des positiven Gesetzes in verschiedenen Ländern. IV. Das ist zu verstehen von dem, was die Vorfahren eingeführt haben mit Rücksicht auf besondere Anwendungen des natürlichen Gesetzes; und zu diesen Bestimmungen verhält sich das Urteil der Weisen und Erfahrenen wie gewisse Principien, insofern sie gleich sehen, was im einzelnen Falle am besten zu bestimmen sei. (Vgl. 6 Ethic. 11.)
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