Erster Artikel. Der Nutzen des menschlichen Gesetzes.
a) Menschliche Gesetze aufzustellen ist völlig unnütz. Denn: I. Die Menschen werden zum Guten mehr angeleitet durch liebreiche Ermahnungen wie durch den Zwang der Gesetze. Das ist doch aber der Zweck von Gesetzen, die Menschen gut zu machen. II. Aristoteles sagt (5 Ethic. 4.): „Zum Richter nehmen die Menschen ihre Zuflucht wie zur lebendigen Gerechtigkeit.“ Lebendige Gerechtigkeit ist aber besser wie tote Gesetze. Also hätte man lieber den Richtern ganz allein das Rechtsprechen überlassen sollen, anstatt mechanische Gesetze zu machen. III. Die Gesetze sollen die Richtschnur sein für die menschlichen Thätigkeiten. Diese aber finden sich in endlos viel voneinander verschiedenen Einzelheiten; die nicht besser erwogen und bemessen werden können wie von einem Weisen, der das Einzelne zu prüfen versteht. Den Weisen hätte man somit die dementsprechende Leitung der menschlichen Thätigkeiten überlassen sollen. Also war es gar nicht notwendig, eigens Gesetze zu erlassen. Auf der anderen Seite sagt Isidorus (5 Etymol. 20.): „Gesetze sind gemacht worden, damit durch die Furcht vor selben die menschliche Verwegenheit gezügelt werde; daß geschützt sei die Unschuld gegenüber den Gottlosen; und daß in den Gottlosen selber durch die Furcht vor der Strafe die Sucht zu schaden zurückgehalten werde.“ Also sind die Gesetze im höchsten Grade nützlich der menschlichen Gemeinschaft.
b) Ich antworte, von Natur wohne dem Menschen inne eine gewisse Hinneigung, die ihn geeignet macht zur Tugend; die Vollendung selber der Tugend aber müsse zum Menschen hinzutreten vermittelst Übung und Unterricht. So kommt ja auch in seinen Bedürfnissen die menschliche Betriebsamkeit dem Menschen zu Hilfe; wie z. B. in der Speise und Kleidung, wovon zwar der Beginn von der Natur kommt, nämlich die Vernunft und die Hände, nicht aber die Vollendung, wie dies bei den übrigen sinnbegabten Wesen der Fall ist, denen die Natur hinreichend Speise und Bedeckung vorgesehen hat. Zu dieser Übung aber kommt der Mensch nicht leicht von sich selber. Denn die Vollendung der Tugend besteht darin, daß der Mensch abgezogen werde von ungebührlichen Ergötzungen, zu denen die Menschen und zumal die Jugend, wo die Übung am wirksamsten ist, in hohem Grade hingezogen erscheinen. Also ist es erforderlich, daß die Menschen eine solche zur Vollendung der Tugend notwendige Übung von anderen Menschen her erhalten. Und zwar genügt für jene jungen Leute, die von Natur oder infolge der Gewohnheit oder vermittelst der Gnade Gottes zur Tugend bereits hinneigen, die Erziehung von seiten des Vaters vermittelst heilsamer Eemahnungen. Weil aber auch freche Leute darunter gefunden werden, welche zum Laster geneigt sind und mit Worten nicht leicht gebessert werden können so war es notwendig, damit dieselben wenigstens in dieser Weise vom Bösen zurückgehalten werden und aufhören anderen zu schaden, sie durch Gewalt und Furcht vor Strafen abzuschrecken; vielleicht daß sie so allmählich gezwungen werden, an das Gute sich zu gewöhnen und später es gern zu thun. Eine derartige Erziehung nun, die da zwingt aus Furcht vor der Strafe, ist die durch Gesetze. Deshalb mußten für den Frieden unter den Menschen und für den Fortschritt in der Tugend Gesetze sein. Denn Aristoteles sagt (1 Polit. 2.): „Ist der Mensch durch Tugend vollendet, so ist er das beste unter den sinnbegabten Wesen; ist er getrennt vom Gesetze und von der Gerechtigkeit, so ist er das schlechteste.“ Denn der Mensch hat die Waffen seiner Vernunft, um seinen Begierden nachzugehen; und solch scharfe Waffen hat kein anderes sinnbegabtes Wesen.
c) I. Dies gilt von den Menschen, die gut zur Tugend veranlagt sind. Die Schlechten müssen anfangs durch Zwang zur Tugend angeleitet werden. II. Aus drei Gründen „ist es besser, Alles vielmehr durch Gesetz zu regeln, wie es der Willkür der Richter zu überlassen,“ nach Aristoteles. (1 Rhet. 1.) Denn 1. ist es leichter, wenige Weise zu finden, die da genügen, um gute Gesetze zu machen, als viele, die erfordert wären, um die einzelnen Fälle recht zu beurteilen. 2. Die da Gesetze machen überlegen lange Zeit hindurch, was durch das Gesetz zu ordnen sei; die Urteile aber über einzelne Handlungen müssen verhältnismäßig schnell gefällt werden. Leichter aber kann nach Prüfung vieler einzelner Fälle der Mensch sehen was recht ist, als wenn ihm nur immer ein solcher plötzlich auftauchender Fall vorgelegt wird. 3. Die Gesetzgeber urteilen im allgemeinen und über Zukünftiges. Menschen aber, welche vorliegende Fälle zu entscheiden haben, lassen sich leicht durch Haß oder Liebe oder irgend welche Begierde beeinflussen; und so wird ihr Urteil verkehrt. Weil also die lebendige Gerechtigkeit des Richters nicht in vielen gefunden wird und weil sie gebeugt werden kann; deshalb mußten, soweit wie möglich, Gesetze das bestimmen, was zu urteilen ist, und sehr Weniges mußte man der menschlichen Willkür überlassen. III. Manche Einzelheiten können vom Gesetze nicht vorhergesehen werden und müssen dem Urteile überlassen bleiben.
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