Fünfter Artikel. Nicht alle Menschen sind gehalten, das Alte Gesetz zu beobachten.
a) Das Gegenteil scheint wahr. Denn: I. Wer einem Könige Unterthan ist, muß dessen Gesetz beobachten. Das Alte Gesetz aber ist von Gott, dem Könige der ganzen Erde. (Ps. 46.) Also alle Menschen sind insgesamt verpflichtet, das Alte Gesetz zu beobachten. II. Die Juden konnten nicht ihr Heil finden, wenn sie nicht das „Gesetz“ beobachteten. Denn Deut. 27. wird gesagt: „Verflucht, wer nicht treu bleibt in allen Worten dieses Gesetzes; und sie nicht in seinen Werken erfüllt.“ Konnten also die anderen Völker ohne das „Gesetz“ ihr Heil wirken, so waren die Juden in einer schlimmeren Lage wie diese. III. Die Heiden wurden zugelassen zur Beobachtung des jüdischen Ritus und der Gesetzesvorschriften; denn Exod. 12. heißt es: „Wenn ein Fremder in euer Gemeinwesen Zutritt haben will und mit thun will das Phase des Herrn, so sollen erst alle männlichen Mitglieder seiner Familie beschnitten werden und so wird er gesetzmäßig Ostern (Phase) feiern und wird sein wie ein Mitglied des Volkes.“ Dies würde aber nutzlos geschehen sein, wenn man auch ohne die Beobachtung der Gesetzesvorschriften hätte zum Heile gelangen können. Auf der anderen Seite sagt Dionysius (de coel. hier. 9.), „daß viele unter den Heiden vermittelst der Engel zu Gott zurückgeführt worden sind.“ Die Heiden aber haben offenbar das „Gesetz“ nicht beobachtet. Also ohne das konnten sie ihr Heil finden.
b) Ich antworte; das Alte Gesetz offenbarte die Vorschriften des Naturgesetzes und fügte hinzu einige eigene. Mit Rücksicht auf die ersteren waren alle verpflichtet, das Alte Gesetz zu beobachten, weil dies auf das Naturgesetz sich bezog; mit Rücksicht auf das eigene Hinzugefügte waren nur die Juden verpflichtet. Der Grund davon besteht darin, daß das Alte Gesetz dem Judenvolke gegeben ward, damit es vor den anderen Völkern einen gewissen Vorrang in der Heiligkeit habe, da Christus aus ihm geboren werden sollte. Was aber festgesetzt wird, nur um einige speciell zu heiligen, das verpflichtet nicht alle. So sind die Kleriker, welche den göttlichen Dienst versehen, zu Manchem verpflichtet, wozu die Laien nicht verpflichtet sind; — und die Ordensleute haben Regeln, welche andere nicht binden. Und ähnlich hatte das auserwählte Volk einige specielle Gebote, zu denen andere Völker nicht verpflichtet waren. Deut. 18. wird deshalb gesagt: „Du sollst vollkommen sein und ohne Makel vor Gott, deinem Herrn.“ Deshalb bedienten sie sich ebenso einer gewissen Profeß, nach Deut. 26.: „Ich mache Profeß heute vor Gott, deinem Herrn etc.“
c) I. Stellt der König einige Gebote einzig auf für seine Hofleute und nicht für alle, so sind letztere nicht dazu verpflichtet. II. Je mehr der Mensch mit Gott verbunden wird, desto höher ist seine Würde und besser seine Lage. Je mehr also das Volk der Juden gebunden war an den Kult Gottes, desto höher stand es im Vergleich zu den anderen Völkern, nach Deut. 4.: „Welch anderes Volk steht so hoch und hat so heilige Ceremonien, so gerechte Gesetze, und ein allumfassendes Gesetz.“ Ähnlich sind in einer besseren Lage die Kleriker wie die Laien, die Ordensleute wie Weltleute. III. Vollkommener und mit mehr Sicherheit gewannen die Heiden das Heil unter der Beobachtung der Gesetzesvorschriften wie unter dem Naturgesetze allein; und deshalb wurden sie dazu zugelassen. So gehen auch Laien zum Klerikalstande über und Weltleute treten in einen Orden; wiewohl sie auch ohne das selig werden können.
