Sechster Artikel. Es war zukörnmlich, daß gerade zur Zeit Mosis das „Gesetz“ gegeben wurde.
a) Es scheint dies unzukömmlich gewesen zu sein. Denn: I. Das „Gesetz“ bereitete vor zum Heile in Christo. Gleich aber nach der Sünde bedürfte der Mensch eines solchen Heilmittels. Also mußte gleich nach der Sünde das Gesetz gegeben werden. II. Das Alte Gesetz ward gegeben wegen der Heiligung jener, aus denen Christus geboren werden sollte. Dem Abraham aber ward die Verheißung zuerst, daß aus seinem Samen Christus geboren werden würde; nach Gen. 12. Also zur Zeit Abrahams mußte das „Gesetz“ gegeben werden. III. Wie Christus nicht geboren worden ist aus anderen Nachkommen Noahs wie aus Abraham, dem die Verheißung wurde, so ist Er nicht aus anderen Nachkommen Abrahams geboren, wie aus denen Davids, dem die Verheißung erneuert ward, nach 2 Reg. 23.: „So sprach der Mann, dem die Anordnung ward betreffs Christi, des Gottes Jakob.“ Das Alte Gesetz also mußte nach David gegeben werden, wie es ja gegeben wurde nach Abraham. Auf der anderen Seite sagt der Apostel (Gal. 3.): „Das Gesetz ist aufgestellt wegen der Übertretungen, bis da käme der Samen, dem verheißen worden war, angeordnet durch die Engel unter der Leitung des Mittlers“ d.h. „unter Beobachtung der Ordnung ist es gegeben,“ nach der Glosse.
b) Ich antworte, der Grund dafür, daß das „Gesetz“ höchst zulässigerweise zur Zeit Mosis gegeben worden, stütze sich auf zwei Momente. Denn ein Gesetz wird aufgelegt einerseits den Harten und Hoffärtigen, um sie zu zügeln und zu zähmen; und andererseits den Guten, um sie behufs vollendeterer Erfüllung des Gesetzes zu unterrichten, damit sie besser wissen, wozu sie thätig seien. Nun war es gerade auf Grund dieser zwei Momente höchst zulässig, daß das „Gesetz“ zu solcher Zeit gegeben ward. Denn auf seine Wissenschaft und seine Macht nämlich war der Mensch stolz, als ob seine Vernunft allein ihm genügt hätte zum Heile; und deshalb, damit sein Stolz als das, was derselbe war, gezeigt würde, wurde zugelassen, daß der Mensch allein der Führung seiner Vernunft folge ohne den Beistand des geschriebenen Gesetzes. So konnte der Mensch lernen, mit wie viel Schwäche seine Vernunft verbunden sei, daran, daß er zur Zeit Abrahams zur Götzendienerei selber und zu den schimpflichsten Lastern hinabgesunken war. Also nach dieser Zeit war es notwendig, ein geschriebenes Gesetz zu geben als Heilmittel gegen die menschliche Unwissenheit; weil durch das „Gesetz“ die Kenntnis der Sünde sich vollzieht; nach Röm. 7. Nachdem aber der Mensch unterrichtet worden war durch das Gesetz, ward seine Schwäche und somit die Hinfälligkeit seines Hochmutes gezeigt; da er nicht zu erfüllen vermochte, was er erkannte. Deshalb schließt der Apostel (Röm. 8.): „Da es unmöglich war dem Gesetze, insofern es ohnmächtig war auf Grund des Fleisches, sandte Gott seinen Sohn …, damit die Rechtfertigung des Gesetzes in uns vollendet würde.“ Andererseits aber wurde es zur Zeit Mosis für die Guten gegeben, weil zu dieser Zeit das Naturgesetz anfing, verdunkelt zu werden wegen der Menge der Sünden. Denn durch den Beistand von oben sollte eben der Mensch vom Unvollkommenen zum Vollkommenen in gewisser Ordnung geführt werden; und deshalb wurde zwischen dem Gesetze der Natur und dem der Gnade das Alte Gesetz gegeben.
c) I. Gleich nach der Sünde erkannte der Mensch noch nicht, wie sehr er des Gesetzes bedürfe; und ebenso war die Vorschrift des Naturgesetzes noch nicht so sehr verdunkelt. II. Das „Gesetz“ durfte nur einem Volke gegeben werden; denn es enthält eine gemeinsame, allumfassende Vorschrift. Deshalb wurden zur Zeit Abrahams einige vertrauliche Gebote von Gott erlassen, gleichsam wie Hausvorschriften für die Familie Abrahams. Als aber die Familie Abrahams zu einem Volke angewachsen und von der Knechtschaft befreit war, da konnte zulässigerweise das „Gesetz“ gegeben werden; „denn Knechte bilden nicht einen Teil des Volkes oder des Staates, dem man Gesetze giebt“ heißt es 3 Polit. 3. III.Weil das „Gesetz“ einem Volke gegeben werden sollte, so empfingen es nicht allein jene, aus deren Familie Christus hervorgehen sollte, sondern das ganze, mit dem Unterscheidungszeichen der Beschneidung behaftete Volk, welches ein Zeichen war der dem Abraham gewordenen Verheißung, nach Röm. 4. Also auch vor David bereits mußte es dem schon eine Einheit bildenden Volke verliehen werden.
