Dritter Artikel. Alle moralischen Vorschriften des Alten Gesetzes lassen sich zurückführen auf die zehn Gebote.
a) Dies scheint zu sein: I. Gegen Matth. 22.: „Du sollst lieben den Herrn deinen Gott und deinen Nächsten wie dich selbst.“ Denn diese zwei Gebote, obgleich die ersten und wichtigsten, sind nicht unter den zehn Geboten. II. Gegen das dritte Gebot: „Gedenke, daß du den Sabbath heiligst;“ denn das ist ein Ceremonialgesetz. III. Die moralischen Vorschriften beziehen sich auf alle Tugendakte. Unter den zehn Geboten aber finden sich nur Gebote, die sich auf die Gerechtigkeit beziehen. Auf der anderen Seite sagt zu Matth. 5. (Beati cum maledixerunt vos) die Glosse: „Moses legt zehn Gebote vor und setzt dann auseinander, was sie enthalten.“ Also alle Vorschriften des Alten Gesetzes sind nur Erläuterungen der zehn Gebote.
b) Ich antworte, die zehn Gebote unterscheiden sich dadurch von den anderen, daß Gott in eigener Person sie vorlegt nach dem Berichte des Exodus; die anderen aber legt er vor durch Moses. Jene Vorschriften also gehören zu den zehn Geboten, deren Kenntnis der Mensch durch sich selbst von Gott erhält. Derartige aber sind solche, welche allsobald aus den ersten Principien mit mäßigem Nachdenken erschlossen werden können; und dann jene, welche unmittelbar aus dem von Gott geoffenbarten Glauben in die Erkenntnis kommen. Also werden unter die zehn Gebote nicht gerechnet zwei Arten von Geboten: 1) jene ersten und allgemeinen Moralprincipien, welche in die natürliche Vernunft hineingeschrieben worden sind als aus und durch sich bekannt und keinerlei Offenbarmachung bedürftig, wie z. B. man dürfe niemandem Böses anthun; — und 2) jene Gebote, die erst langen und tiefen Nachdenkens bedürfen, ehe sie gefunden werden und die somit von Gott an das Volk gelangen nicht unmittelbar, sondern vermittelst des Unterrichts von seiten der Weisen. Diese beiden letzten Arten sind in den zehn Geboten eingeschlossen, jedoch in je verschiedener Weise. Denn jene ersten allgemeinen Moralgrundsätze sind da enthalten wie in den nächsten, aus ihnen erfließenden Folgerungen; die anderen aber umgekehrt sind da enthalten wie in ihren Principien, aus denen sie vermittelst der Weisen gefolgert werden.
c) I. Jene zwei Gesetze sind die beiden ersten und allgemeinen Moralgrundsätze, welche aus und durch sich unmittelbar bekannt sind entweder durch die natürliche Vernunft oder durch den Glauben. Alle zehn Gebote also sind wie Folgerungen aus diesen Principien. II. Das dritte Gebot ist Moralgebot, insoweit damit vorgeschrieben wird, man solle eine gewisse Zeit göttlichen Dingen widmen, nach Ps. 45.: „Ruhet aus und schauet, daß ich bin Gott.“ Rücksichtlich der Feststellung der Zeit aber ist es Ceremonialgesetz und nicht eines der zehn Gebote. III. Die Verpflichtung liegt bei den anderen Tugendakten nicht so offen vor, wie bei der Gerechtigkeit. Darum sind die zehn Gebote die ersten Elemente des „Gesetzes“ und fallen die Akte der Gerechtigkeit speciell unter die zehn Gebote.
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