Dritter Artikel. Die richterlichen Vorschriften des Alten Gesetzes haben keine beständig verpflichtende Kraft.
a) Dies scheint doch. Denn: I. Diese Vorschriften beziehen sich auf die Gerechtigkeit, „die beständig ist und unvergänglich.“ (Sap. l.) II. Die von der menschlichen Autorität erlassenen richterlichen Vorschriften haben für immer Kraft; um so mehr also wenn sie von der göttlichen kommen. III. Hebr. 7.: „Verworfen wird das vorhergehende Gesetz wegen dessen Schwäche und Nutzlosigkeit;“ ist wohl wahr mit Bezug auf die Ceremonialvorschriften, „die nicht vollenden konnten gemäß dem Gewissen den, der da diente in Speise und Trank und verschiedenen Besprengungen und Gerechtigkeiten des Fleisches.“ Jedoch die richterlichen Vorschriften waren wirksam und nützlich zu dem, wofür sie angeordnet waren; nämlich um Billigkeit und Gerechtigkeit unter den Menschen herzustellen. Also wurden sie nicht verworfen, sondern blieben verpflichtend. Auf der anderen Seite sagt Paulus (Hebr. 7.): „Da das Priestertum übertragen worden ist, mußte auch das Gesetz verändert werden.“ Das Priestertum aber ist übertragen von Aaron auf Christum. Also ist dies auch mit dem ganzen Gesetze der Fall.
b) Ich antworte, die richterlichen Vorschriften seien ihrer verbindenden Kraft entleert durch Christum; anders aber wie die Ceremonialvorschriften. Denn diese sind tot und zugleich todbringend für die nach dem Leiden Christi sie Beobachtenden. Jene aber sind zwar tot, haben also keine verpflichtende Kraft mehr von sich aus; aber nicht sind sie todbringend. Wenn z. B. ein christlicher Fürst jene Vorschriften in seinem Reiche einführte, daß sie daselbst verpflichtende Kraft hätten, weil der Fürst es so anordnet, nicht aber weil das „Gesetz“ der Juden so ist; — so würde er keineswegs sündigen. Denn die Ceremonialgesetze danken ihr ganzes Bestehen ihrem figürlichen und prophetischen Charakter, wonach sie Christum vorsinnbildeten; also widerstreitet die Beobachtung derselben der Glaubenswahrheit, wonach Christus schon gekommen ist. Jene richterlichen Gebote sind aber gegeben; nicht um zu versinnbilden, sondern um das ganze bürgerliche Bestehen jenes Volkes zu ordnen. Ist also dieses bürgerliche Bestehen geändert, so verlieren die entsprechenden Gesetze wohl ihre verpflichtende Kraft; aber die Beobachtung derselben ist nicht gegen die Glaubenswahrheit. Dies wäre nur der Fall, wenn man die Absicht hätte, sie zu beobachten, weil etwa das „Gesetz“ dazu verpflichte; denn dies setzte voraus, das Bestehen jenes Volkes sei noch das nämliche wie früher, vor Christo.
c) I. Die Bestimmung dessen, was im bürgerlichen Bereiche nach menschlicher oder göttlicher Einrichtung Recht sein soll, ändert sich gemäß den Änderungen in der Lage des betreffenden Volkes; wenn auch die Gerechtigkeit selber sich nicht ändert. II. So lange die Art der Regierung in einem Staate die nämliche bleibt, behalten auch die entsprechenden Gesetze verpflichtende Kraft. Ändert sich aber die Art der Regierung, so tritt auch eine Änderung in den Gesetzen ein. Denn nicht die nämlichen Gesetze kommen der Demokratie zu wie der Monarchie oder Oligarchie. III. Die richterlichen Vorschriften paßten jenes Volk wohl der Gerechtigkeit und Billigkeit an; jedoch gemäß der Lage und den Verhältnissen desselben. Waren diese verändert, wie durch Christum z. B. die Trennung der Heiden von den Juden aufgehoben worden war, so mußten auch diese Gesetze eine Änderung erleiden.
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