Siebenter Artikel. Der Mensch kann von der Sünde nicht aufstehen ohne den Beistand der Gnade.
a) Das Gegenteil erhellt aus Folgendem: I. Aufstehen aus der Sünde ist die Vorbedingung für alle Gnade, nach Ephes. 5.: „Stehe auf von den Toten und Christus wird dich erleuchten.“ Also ist das Aufstehen aus der Sünde ohne allen Gnadenbeistand. II. Die Sünde ist der Tugend entgegengesetzt, wie die Krankheit es ist gegenüber der Gesundheit. Kraft der Natur aber kann der Mensch sich erheben von der Krankheit zur Gesundheit ohne den Beistand der äußerlichen Medizin; denn das Lebensprincip bleibt in ihm, wovon die natürliche Thätigkeit ausgeht. Also kann ähnlich der Mensch vom Stande der Sünde sich erheben zum Stande der Gerechtigkeit ohne den Beistand der äußerlichen Gnade. III. Jedes Ding kehrt kraft seiner Natur zu der dieser Natur entsprechenden Thätigkeit zurück; wie das erwärmte Wasser wieder ganz allein zu der ihm entsprechenden natürlichen Kälte und der nach oben geworfene Stein von selbst zu seiner natürlichen Bewegung zurückkehrt. Die Sünde aber ist eine gewisse Thätigkeit gegen die Natur. (Damascenus 2. de orth. fide 30.) Also von selbst kehrt der sündige Mensch zurück zur Gerechtigkeit. Auf der anderen Seite sagt Paulus (Gal. 2.): „Wenn ein Gesetz gegeben ist, welches rechtfertigen kann, dann ist unnützerweise Christus gestorben.“ Kann also der Mensch gar ohne Gnadenbeistand von der Sünde sich erheben und gerecht werden, so ist um so mehr Christus unnützerweise gestorben; was unzulässig ist.
b) Ich antworte, in keiner Weise könne der Mensch aus der Sünde aufstehen ohne Gnadenbeistand. Denn da der Akt der Sünde vergeht und die Schuld bleibt, so ist es nicht dasselbe: aufhören, thatsächlich zu sündigen; und: von der Sünde aufstehen. Von der Sünde aufstehen will vielmehr dies besagen, daß der Mensch wiedererlangt das, was er durch die Sünde verloren hat. Nun hat der Mensch durch die Sünde einen dreifachen Nachteil erlitten: nämlich seine Seele hat einen Flecken erhalten; das seiner Natur entsprechende Gute ist verderbt worden; und Strafe hat er verdient. Der Flecken seiner Seele rührt daher, daß er infolge der Häßlichkeit der Sünde des Glanzes der Gnade ermangelt. Das Gute seiner Natur ist verderbt, weil die Fähigkeiten in Unordnung sind, infolgedessen daß sein Wille nicht Gott unterworfen ist, denn dadurch kam Unordnung in die ganze Natur. Und zudem verliert er durch die Todsünde die ewige Höllenstrafe. Offenbar nun kann keiner dieser drei Verluste anders entfernt werden wie durch Gott. Denn der Glanz der Gnade kommt einzig und allein vom Erleuchten seitens des göttlichen Lichtes. Er kann also nur wiederkommen, wenn Gott wieder in die Seele hineinleuchtet; und danach ist erforderlich als Geschenk der innere Gnadenzustand. Die Ordnung aber kann nur dadurch wieder hergestellt werden, daß der Wille sich Gott unterwirft, wozu dieser ihn zu Sich wenden muß. (Art. 6.) Die Strafe kann ebenso nur von Gott als dem Beleidigten und dem Richter erlassen werden. Sowohl also mit Rücksicht auf den Gnadenzustand im Innern als auch mit Rücksicht auf den Anstoß zur Thätigkeit kann nur mit der Gnadenhilfe Gottes der Mensch von der Sünde aufstehen.
c) I. Das Aufstehen von der Sünde ist ein freier Willensakt und deshalb wird geboten: „Stehe auf und erleuchten wird dich Christus.“ Nicht also das ganze Auferstehen von der Sünde geht der Erleuchtung seitens der Gnade vorher, sondern weil der Mensch kraft des von Gott in Thätigkeit gesetzten freien Willens von der Sünde aufzustehen versucht, erhält er das rechtfertigende Gnadenlicht. II. Die natürliche Vernunftkraft ist kein genügendes Princip für diese Gesundheit, welche im Menschen durch die Gnade der Rechtfertigung bewirkt wird; dieses Princip ist die Gnade und diese wird entfernt durch die Sünde. Also kann der Mensch sich nicht selber wiederherstellen; sondern von neuem muß ihm das Licht der Gnade eingegossen werden, wie einem Toten bei der Auferweckung von neuem die Seele. III. Ist die Natur unversehrt, so kann sie aus sich heraus sich erheben zu dem, was zu dem der Natur entsprechenden Zwecke gehört. Was aber die natürlichen Verhältnisse der Natur übersteigt, kann die Natur aus eigenen Kräften nicht wiedererlangen. Die gefallene Natur kann aber nicht einmal das Erste.
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