Achter Artikel. Ohne den Beistand der Gnade kann der Mensch nicht frei von Sünden bleiben.
a) Das Gegenteil wird dargethan: I. „Niemand sündigt in dem, was er nicht vermeiden kann,“ sagt Augustin (de duab. animab. cap. 10 et 11). Kann also jemand, der im Stande der Todsünde ist, die Sünde nicht meiden, so sündigt er nicht; was unzulässig ist. II. Deshalb wird ein Mensch getadelt und gezüchtigt, damit er nicht sündige. Kann also jemand, der im Stande der Todsünde ist, die Sünde nicht vermeiden, so macht man ihm unnützerweise Vorstellungen oder straft ihn; was wieder unzulässig ist. III. Ekkli. 15. heißt es: „Vor dem Menschen liegt Leben und Tod, Gutes und Übles; was ihm gefällt, wird ihm gegeben werden.“ Der Sünder aber bleibt immerhin Mensch. Also ist es in seiner Gewalt, das Gute oder das Üble zu wählen; und so kann er ohne Gnadenbeistand die Sünde vermeiden. Auf der anderen Seite sagt Augustin (de perfect. justitiae, in fine): „Wer da lehrt, man müsse nicht beten: Führe uns nicht in Versuchung (das lehrt aber jener, der da meint, es sei, um nicht zu sündigen, der Beistand der Gnade Gottes nicht notwendig, sondern es genüge dazu, da ja das Gesetz einmal bekannt sei, der menschliche Wille); von dem behaupte ich, die Ohren aller müssen sich vor ihm schließen und aller Zungen müßten ihn Verurteilen.“
b) Ich antworte gemäß den beiden Zuständen: Im Stande der unversehrten Natur konnte ohne inneren Gnadenzustand der Mensch sowohl die schwere wie die läßliche Sünde vermeiden. Sündigen nämlich ist nichts Anderes wie Abweichen von dem der Natur Entsprechenden, was der Mensch bei unversehrten Kräften vermeiden konnte. Jedoch war dabei notwendig der Beistand Gottes, um das Gute in ihm zu bewahren; dessen Entfernung ja die Natur ins Nichts zurückstürzen würde. Im Stande der gefallenen Natur aber bedarf der Mensch bereits des inneren Gnadenzustandes, damit dieser die Natur heile und der Mensch so von Sünden sich enthalte. Diese Heilung nun geschieht im gegenwärtigen Leben zuvörderst gemäß dem vernünftigen Geiste, während das fleischliche Begehren noch nicht in seiner ganzen Ausdehnung gesund geworden. Deshalb sagt der Apostel (Röm. 7.): „Ich selbst diene dem Gesetze Gottes mit dem vernünftigen Geiste, mit dem Fleische aber diene ich dem Gesetze der Sünde.“ In diesem Zustande nun kann der Mensch sich enthalten jeder Todsünde, welche in der Vernunft ihren Sitz hat, wie Letzteres Kap. 74, Art. 5 dargelegt worden; nicht aber kann der Mensch sich enthalten jeder läßlichen Sünde wegen des Verbleibens der Schwäche in den niederen sinnlichen Kräften. Denn die Vernunft kann wohl jede einzelne ungeregelte Bewegung in diesen Kräften unterdrücken und deshalb haben solche Bewegungen den Charakter des Freiwilligen und der Sünde; — aber sie kann dies nicht allen insgesamt gegenüber, da, während sie der einen Bewegung widersteht, vielleicht eine andere aufsteht; und ebenso, weil die Vernunft nicht fortwährend auf der Wache stehen kann, um derartige Bewegungen zu vermeiden. Ähnlich nun kann die menschliche Vernunft, worin die Todsünde ihren Sitz hat, ehe sie kraft der rechtfertigenden Gnade gesund geworden, wohl jede einzelne Todsünde vermeiden und zwar für eine gewisse Zeit; denn keine Notwendigkeit besteht dafür, daß sie fortwährend sündige. Daß sie aber lange verbleibt, ohne eine thatsächliche Todsünde zu begehen, das kann nicht statthaben. Deshalb sagt Gregor (hom. 11. in Ezech.: 25. moral. 9.): „Eine Sünde, welche nicht binnen kurzem durch die Buße getilgt wird, zieht mit ihrem Gewichte bald zu einer anderen.“ Und der Grund davon ist: Wie der Vernunft Unterthan sein soll das niedere Begehren, so soll die Vernunft Gott Unterthan sein und in Gott den Endzweck ihres Wollens finden. Durch den Endzweck aber werden geregelt alle menschlichen Akte, wie durch das vernünftige Urteil geregelt werden sollen die Bewegungen des niederen Begehrens. Gleichwie also, wenn das niedere Begehren nicht gänzlich der Vernunft Unterthan ist, es nicht anders sein kann als daß ungeregelte Bewegungen in den niederen Kräften vorkommen, so nun kann, wenn die Vernunft nicht ganz Gott unterworfen ist, es gar nicht anders sein, als daß vieles Ungeregelte sich findet in den Akten der Vernunft selber. Denn wenn des Menschen Herz nicht in Gott gefestigt ist, so daß es um nichts in der Welt willen von Gott sich trennen möchte und die göttlichen Gebote verachten, so begegnet Manches, um dessentwillen der Mensch sich lieber von Gott trennt als daß er der Erreichung eines Gutes entsagt oder der Furcht vor einem Übel sich entschlägt. Und so sündigt er schwer; zumal „bei plötzlich eintretenden Dingen der Mensch gemäß dem vorher erfaßten Zwecke und dem vorher bestehenden Zustande handelt.“ (3 Ethic. 8.) Freilich kann der Mensch immerhin, wenn er reiflich nachdenkt, gegen den vorgefaßten Zweck handeln oder absehen von dem, worauf die Hinneigung sich richtet. Weil er aber nicht immer in dieser Weise reiflich und angestrengt nachzudenken vermag, so kann es nicht geschehen, daß es lange andauert, bis er nicht gemäß dem von Gott abgefallenen ungeregelten Willen handelt; er müßte denn vermittelst der Gnade schnell zur gebührenden Ordnung zurückkehren.
c) I. Der Mensch kann jede einzelne sündhafte Handlung meiden; nicht aber alle insgesamt, wie gesagt worden. Weil aber dies Schuld des Menschen ist und eine Folge des Mangels in ihm, daß er sich nicht vorbereitet zur Gnade; deshalb ist er nicht von Sünde entschuldigt, wenn er ohne die Gnade die Sünde nicht meiden kann. II. „Der Tadel und die Strafe ist nützlich, wenn aus dem dadurch verursachten Schmerze der Wille entsteht, wiedergeboren zu werden; vorausgesetzt daß jener, der gebessert werden soll, ein Sohn der Verheißung ist, so daß, während die Worte der Vorwürfe außen tönen oder die Strafe außen geißelt, Gott in ihm innerlich vermittelst verborgenen Einfprechens wirkt das Wollen und das Vollbringen;“ sagt Augustin (de corrept. et grat. 6.). Die Vorwürfe und Strafen sind notwendig, weil eben der Wille des Menschen selber dafür erfordert ist, daß der Mensch sich der Sünde enthalte; sie sind aber nicht genügend ohne den inneren Beistand Gottes. Deshalb sagt Ekkle. cap. 7.: „Schaue die Werke Gottes, wie niemand jenen bessern kann, den Gott verwirft.“ III. Jenes Wort wird nach Augustin (Hypogn. lib. 3, cap. 1 et 2) verstanden von der unversehrten Natur, da sie noch nicht Sklave der Sünde war; sie konnte da sündigen und auch nicht sündigen. Auch jetzt aber wird dem Menschen gegeben, was er will; daß er aber das Gute will, kommt vom Beistande der Gnade. XL.
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