Zweiter Artikel. Die Gnade ist eine Eigenschaft oder eine Zuthat in der Seele.
a) Dies scheint nicht richtig. Denn: I. Keine Eigenschaft wirkt in ihr Subjekt oder in ihren Träger hinein. Sie setzt vielmehr in ihrem Thätigsein die Wirksamkeit des Subjektes voraus; es müßte also ein solches Subjekt oder ein solcher Träger in sich selbst hineinwirken. Die Gnade aber wirkt rechtfertigend in die Seele hinein. Also ist die Seele nicht ihr Subjekt oder ihr Träger. II. Die Substanz steht höher im Sein als eine bloße Eigenschaft. Die Gnade aber steht höher wie die Substanz oder Natur der Seele; denn Vieles vermögen wir vermittelst der Gnade, wozu die Natur nicht hinreicht. Also ist die Gnade keine bloße Zuthat. III. Keine Eigenschaft oder Zuthat bleibt, wenn sie nicht mehr im Träger oder im Subjekte ist. Die Gnade aber bleibt; denn sonst würde sie, da sie nicht verdorben werden kann, zu Nichts werden, wie sie aus Nichts geschaffen ist und deshalb auch Gal. ult. als „neue Kreatur“ bezeichnet wird. Also sie ist keine bloße Eigenschaft. Auf der anderen Seite sagt die Glosse zu Ps. 103 (ut exhilaret): „Die Gnade ist ein Glanz der Seele, mit ihr versöhnend die heilige Liebe.“ „Glanz“ aber ist eine Eigenschaft der Seele wie die Schönheit eine solche am Körper.
b) Ich antworte; in der Gnade Gottes sein, bedeutet: eine Wirkung des durchaus freien, keinerlei Verdienst voraussetzenden Willens Gottes in sich haben. Nun besteht ein doppelter Beistand Gottes, der unverdient ist: nämlich 1. insoweit die Seele des Menschen von seiten Gottes in Thätigkeit gesetzt wird, um etwas zu wollen und zu wirken; und danach ist die Gnade Gottes keine bleibende Eigenschaft, sondern eine Thätigkeit oder Bewegung der Seele, denn „das Einwirken der bewegenden Kraft ist im davon Bewegten nichts Anderes als die Bewegung selber“ (3 Physic.); — 2. insoweit ein Gnadenzustand der Seele von Gott eingeprägt wird. Und das geschieht deshalb, weil Gott nicht minder vorsorgt für jene welche Er liebt damit sie eine übernatürliche Gabe besitzen, wie für das rein Natürliche. Die Kreaturen im Bereiche der Natur aber leitet Er nicht nur in der Weise, daß Er sie hinbewegt zu ihren natürlichen Thätigkeiten, sondern auch derart, daß Er ihnen in ihrem eigenen Innern gewisse Formen und Kräfte verleiht als bleibende Principien für die entsprechenden Thätigkeiten, damit sie in sich selber die Hinneigung haben für solche Thätigkeiten oder Bewegungen. Denn so wird die kreatürliche Thätigkeit für die Kreaturen selber leicht und angenehm und erfüllt sich das Wort der Weisheit (8, 1.): „Er leitet Alles in sanfter, süßer Weise.“ Um so mehr also prägt Gott denen, welche Er zur Erreichung des übernatürlichen ewigen Gutes hinbewegt, gewisse Eigenschaften und Kräfte ein, gemäß denen die entsprechende Thätigkeit bereitwillig und in angenehmer Weise geschieht; und danach ist das Geschenk der Gnade eine Eigenschaft.
c) I. Wie das „Weiße“ im weißen Gegenstande weiß macht, also nicht in einwirkender Weise, sondern als Formalursache; — so beeinflußt die Gnade die Seele. II. Die Substanz eines Dinges ist entweder seine Natur oder ein Teil seiner Natur; wie z. B. der Körper im Menschen, oder die Seele, oder das Ganze „Substanz“ genannt wird. Da also die Gnade über der Natur steht, kann sie keine Substanz und keine substantielle Wesensform sein; sondern nur eine zur Substanz hinzutretende, eine Zuthat oder Eigenschaft. Was nämlich Gott seiner Substanz nach ist, davon hat die Seele einen zu ihrer Natur hinzutretenden Anteil; wie das beim Wissen klar ist. So weit demgemäß die Seele in unvollkommener Weise an der göttlichen Güte teilnimmt, hat diese Teilnahme oder dieser Anteil, also die Gnade, ein unvollkommeneres Sein in der Seele wie letztere in sich selbst. Soweit aber die Gnade der unmittelbare Abdruck der göttlichen Güte ist, steht sie höher im Sein als die Seele. Also ihre Art und Weise, in der Seele zu sein, ist unvollkommener wie die Seele; nicht aber sie selbst. III. Keine Eigenschaft an und für sich entsteht oder verdirbt; sondern man sagt dies von ihr, insoweit das Subjekt, welches sie trägt, entsteht oder verdirbt; ihr Sein ist nur ein Insein im Subjekte. Danach wird von der Gnade gesagt, sie werde geschaffen, insoweit die Menschen gemäß derselben geschaffen werden; d. h. ein neues Sein erhalten, was sie in keiner Weise verdient haben; nach Ephes. 2.: „Geschaffen in Christo Jesu in guten Werken.“
