Erster Artikel. Die Gnade verursacht etwas in der Seele.
a) Dies scheint nicht. Denn: I. Wie man vom Menschen sagt, er habe die Gnade Gottes, so auch, er stehe in Gnaden bei einem anderen Menschen; weshalb Gen. 39. gesagt wird: „Joseph fand Gnade vor den Augen des Gefängniswärters.“ Das Letztere aber verursacht nichts im Menschen, der Gnade findet; wohl aber setzt es im anderen, bei dem er Gnade findet, eine Billigung voraus. Also ist die Gnade Gottes im Menschen nichts im Menschen, sondern nur eine Billigung in Gott. II. “Wie die Seele das Leben des Körpers ist, so Gott das Leben der Seele, wonach Deut. 30. es heißt: „Er ist dein Leben.“ Die Seele aber belebt den Körper unmittelbar. Also fällt auch nichts als Mittelglied dazwischen, wenn Gott die Seele belebt durch die Gnade. Also ist die Gnade nichts Geschaffenes in der Seele. III. Zu Röm. 1.: „Gnade sei euch und Frieden,“ sagt die Glosse: „Gnade d. i. Nachlaß der Sünden.“ Dieser aber verursacht nichts in der Seele, sondern besteht allein darin, daß Gott die Sünde nicht anrechnet, nach Ps. 31.: „Selig der Mann, dem der Herr die Sünde nicht an rechnet.“ Auf der anderen Seite verursacht das Licht etwas im erleuchteten Körper. Die Gnade aber ist ein Licht für die Seele, so daß Augustin (de nat. et grat. 22.) sagt: „Den Übertreter des Gesetzes verläßt verdientermaßen das Licht der Wahrheit; von dem verlassen er blind wird.“
b) Ich antworte, nach der gewöhnlichen Redeweise nimmt man „Gnade“ in dreifachem Sinne: 1. für ein gewisses Wohlgefallen, wie man sagt, dieser Soldat steht in Gnaden beim Könige, d. h. der König will ihm wohl; — 2. für ein unverdientermaßen gegebenes Geschenk; wie man sagt: diese Gnade erweise ich dir; — 3. für das Umgekehrte der Gnade, nämlich für die Vergeltung der erhaltenen Wohlthat; was wir im Deutschen auch durch Umkehrung des Wortes „Gnad“ in „Dank“ ausdrücken, im Lateinischen aber als ein Wirken der unverdient erhaltenen Wohlthat, insoweit sie unverdient ist, bezeichnet wird „Gratias agere“. Von diesen Auffassungen hängt die zweite von der ersten ab; denn wem wir wohlwollen, dem erweisen wir Gnade; — die dritte aber von der zweiten; denn nur wenn man eine Wohlthat empfangen hat, ist Ursache da für den Dank. Mit Rücksicht auf die beiden letzten Auffassungen verursacht offenbar die Gnade etwas in dem, der ihr Gegenstand ist: nach der ersten nämlich das gegebene Geschenk, nach der letzten die Anerkennung des unverdient Erhaltenen in dem, der es erhalten hat. Mit Rücksicht aber auf die an leitender Stelle gesetzte Auffassung der Gnade besteht ein Unterschied zwischen der Gnade Gottes und der von einem Menschen ausgehenden. Denn das Gute in der Kreatur kommt von dem Willen Gottes her; und somit fließt aus der Liebe Gottes, welche der Kreatur wohlwill, das Gute in die letztere. Der menschliche Wille aber wird angezogen vom Guten, was bereits in den Dingen besteht; und somit wird von der Liebe des Menschen das Gute im Dinge entweder ganz oder doch ein Teil davon vorausgesetzt und nicht verursacht. Offenbar also folgt der Liebe Gottes immer etwas Gutes in der Kreatur, was zur gewissen Zeit verursacht wird und nicht mit der ewigen Liebe gleich ewig ist. Und gemäß dem Unterschiede in solchem Guten ist die Liebe Gottes zu den Kreaturen eine verschiedentliche: Die eine nämlich ist ganz allgemein, nach Sap. 11.: „Er liebt Alles was existiert;“ gemäß dieser verleiht Gott dem Geschöpfe das geschaffene Sein. Die andere ist eine ganz besondere, wonach Er die vernünftige Kreatur über ihre natürlichen Kräfte und Verhältnisse hinaus zur Teilnahme am göttlichen Gute zu Sich zieht; gemäß dieser Liebe liebt Gott jemanden schlechthin, denn gemäß ihr will Gott schlechthin der Kreatur das ewige Gut, das in keiner Beziehung mehr schlecht ist oder zu Schlechtem dienen kann, d. h. Sich selbst. So also wird dadurch daß man sagt, der Mensch habe die Gnade Gottes, etwas Übernatürliches im Menschen bezeichnet, was von Gott kommt. Bisweilen jedoch wird „Gnade Gottes“ genannt die ewige Liebe in Gott selbst; wonach sie auch die Gnade der Vorherbestimmung heißt, insoweit Gott frei aus Sich, ohne daß es vom Menschen im geringsten verdient worden wäre, einige vorausbestimmt oder auserwählt.
c) I. Auch rücksichtlich der Gnade bei einem Menschen wird etwas im Menschen, der in Gnaden steht, vorausgesetzt. Bei der Gnade Gottes aber wird es von der Gnade verursacht. Immer also ist etwas Positives unter der „Gnade“ verstanden. II. Gott ist das Leben der Seele als wirkende, die Seele ist das Leben des Körpers als innerlich bildende Formalursache. Zwischen der bildenden Form und dem geformten Stoffe aber ist kein Zwischensein, denn die Form hat es an sich ihrem Wesen nach, den Stoff oder überhaupt das tragende Subjekt zu bilden. Der einwirkende Grund aber wirkt ein auf den Gegenstand, nicht vermittelst seiner Substanz, die in den Gegenstand etwa träte, sondern vermittelst einer Form, die er im Stoffe verursacht. III. Augustin sagt (1. Retr. 25.): „Wo ich gesagt habe, die Gnade sei für den Nachlaß der Sünden, der Friede für die Aussöhnung mit Gott zu erachten, ist das nicht so zu verstehen, als ob der Friede selbst und die Aussöhnung nicht im allgemeinen zur Gnade gehöre, sondern weil man wie mit einem besonderen Namen den Nachlaß der Sünden als Gnade bezeichne.“ Viele andere Gaben also gehören zur Gnade, nicht der Nachlaß der Sünden allein. Aber auch letzterer vollzieht sich nicht, ohne daß etwas in uns von Gott verursacht worden sei. (Vgl. Kap. 113, Art. 2.)
