Dritter Artikel. Die Emteilung der Gnade in eine zuvorkommende und eine nachfolgende.
a) Diese Einteilung ist unzulässig. Denn: I. Die Gnade ist eine Wirkung der göttlichen Liebe, die niemals nachfolgt, sondern immer vorher ist, nach 1. Joh. 4.: „Nicht daß wir zuerst Gott geliebt hätten; Er vielmehr hat uns zuvor geliebt.“ II. Die heiligmachende Gnade ist nur eine und ist genügend, nach 2. Kor. 12.: „Es genüge dir meine Gnade.“ Ein und dasselbe kann aber nicht zuvor sein und nachher kommen. III. Sollte gemäß den Wirkungen, vermittelst deren die Gnade erkannt wird, diese in eine vorhergehende und nachfolgende unterschieden werden, so wären ohne Ende viele Arten Gnaden. Denn ohne Ende viele sind der Wirkungen der Gnade, von denen die eine der anderen folgt. Auf der anderen Seite heißt es Ps. 58.: „Seine Barmherzigkeit kommt mir zuvor;“ und Ps. 22.: „Seine Barmherzigkeit folgt mir nach.“
b) Ich antworte, gemäß den verschiedenen Wirkungen werde die Gnade, wie in eine „wirkende“ und „mitwirkende“, so auch in eine „zuvorkommende“ und „nachfolgende“ geschieden. Fünf Wirkungen der Gnade aber kann man aufzählen: 1. daß die Seele geheilt wird; 2. daß sie das Gute will; 3. daß sie das gewollte Gute wirksam thut; 4. im Guten verharrt; 5. zur Herrlichkeit gelangt. Mit Rücksicht auf die folgende Wirkung somit wird die Gnade, welche die Ursache der vorhergehenden ist, als zuvorkommende Gnade bezeichnet. Und wie die eine Wirkung früher ist mit Rücksicht auf die folgende und nachfolgend mit Beziehung auf die vorhergehende, so kann die eine selbe Gnade mit Rücksicht auf eine selbe Wirkung nach verschiedenen Seiten hin eine zuvorkommende und eine nachfolgende sein; wie Augustin (de nat. et grat. 31.) sagt: „Sie kommt zuvor, daß wir heil werden; sie folgt, daß wir geheilt Lebensthätigkeit entfalten; — sie kommt zuvor, daß wir berufen; sie folgt, daß wir verherrlicht werden.“
c) I. Die Liebe Gottes bezeichnet etwas Ewiges; sie ist also immer zuvorkommend. Die Gnade aber ist eine Wirkung in der Zeit und kann somit mit Rücksicht auf etwas vorhergehen und mit Rücksicht auf etwas Anderes nachfolgen. II. Die Gnade bleibt auch in diesem Falle, wie in jenem, wo sie als „wirkende“ und „mitwirkende“ bezeichnet wird, immer wesentlich die nämliche; der Unterschied liegt nur in den Wirkungen. So ist auch die nachfolgende Gnade, welche sich auf die Herrlichkeit bezieht, ganz die gleiche wie die zuvorkommende, durch die wir jetzt gerechtfertigt werden. Wie die Liebe auf dem Pilgerwege vollendet wird in der Heimat, so ist es auch mit dem Lichte der Gnade der Fall; keines von beiden schließt in seinem Wesen Unvollendung ein. III. Alle Wirkungen der Gnade lassen sich zurückführen auf jene fünf bestimmten Gattungen; und alle kommen darin überein, daß die eine der anderen folgt.
