Zweiter Artikel. Jede Häresie betrifft im eigentlichsten Sinne den Glauben.
a) Das ist nicht so allgemein zu nehmen.Denn: I. Bei den Juden und Pharisäern waren auch Sekten oder Häresien; die aber nicht den Glauben zum Gegenstande hatten. II. Stoff des Glaubens sind die Dinge, welche geglaubt werden. Die Häresien aber richten sich auch auf bloße Worte und auf reine Erklärungen der heiligen Schrift, nach Hieronymus (Gal. 5. haereses, invidiae): „Wer anders die heilige Schrift erklärt, wie der Sinn, den der heilige Geist hineingelegt, es verlangt, mag er auch von der Kirche sich nicht entfernen, so kann er doch ein Häretiker genannt werden“ und: „Aus ungeregelt ausgesprochenen Worten entsteht Häresie.“ III. In dem, was den Glauben angeht, weichen manchmal die heiligen Lehrer voneinander ab; und trotzdem sind sie nicht Häretiker. Also geht die Häresie nicht so recht eigentlich den Glauben an. Auf der anderen Seite schreibt Nugustin (18. de civ. Dei 51.): „Wer in der Kirche Christi eine schlechte und verderbliche Meinung hat und darauf aufmerksam gemacht, sich nicht bessert, daß er die reine, gesunde Meinung annimmt; sondern hartnäckig sich widersetzt und seine verkehrten, todbringenden Ansichten nicht ändern, wohl aber sie aufrecht halten und verteidigen will; — der ist ein Häretiker.“ Todbringende und verderbliche Lehren aber richten sich gegen den Glauben, weil „der Gerechte durch den Glauben lebt.“ Also betrifft jede Häresie den Glauben.
b) Ich antworte, die Häresie, von der wir nun sprechen, schließe einzig den Willen ein, den katholischen Glauben zu verderben. Das aber gehört nicht zum katholischen Glauben, wenn jemand in Fragen der Geometrie etc. eine falsche Meinung hat. Zum katholischen Glauben nun gehören die Glaubensartikel an erster, leitender Stelle; an zweiter Stelle das, dessen Leugnung die Verletzung eines Glaubensartikels in sich einschließt. Und nach beiden Seiten kann wie der Glaube so die Häresie sich richten.
c) I. Uns beschäftigen hier bloß die Häresien, welche den Glauben Christi verderben; nicht die Sekten, welche sich mit der Lehre des Judentums befassen. II. Jener erklärt die heilige Schrift anders als der heilige Geist, ihr Autor, es will, der sie zu einem Sinne verkehrt, welcher gegen das vom heiligen Geiste Geoffenbarte sich wendet. Deshalb sagt Ezechiel (13, 6.) von den falschen Propheten: „Die da fortfuhren, ihre Rede zu bekräftigen;“ nämlich durch falsche Schrifterklärungen. Ähnlich bekennt jemand durch Worte, welche er spricht, die Dinge, welche er glaubt; denn das Bekennen ist ein Akt des Glaubens. Ist also die Rede nicht geregelt, so kann daraus ein Verkehren des Glaubens folgen. Deshalb sagt Leo (ep. 129.): „Die Feinde des Kreuzes Christi stellen allen unseren Worten und Handlungen nach; damit sie, wenn wir auch nur den leisesten Anlaß gäben, uns verleumden können, wir stimmten der Verkehrtheit des Nestorius zu. III. Augustin (ep. 43.) schreibt: „Wenn jemand seine, obgleich falsche, Meinung ohne Hartnäckigkeit verteidigt und mit großem Kummer die Wahrheit sucht, stets bereit, sich zu bessern, wenn er sie findet; der zählt keineswegs zu den Häretikern;“ denn ein solcher hat in sich nicht die freie Wahl getroffen, der Kirche zu widerstreiten. Hatten also manche heilige Lehrer voneinander abweichende Meinungen in dem, was nicht den Glauben betraf oder in dem, was wohl den Glauben betraf, von der Kirche aber noch nicht erklärt worden, so waren sie deshalb keine Häretiker. Erst wer der ausdrücklichen Erklärung der Kirche widersteht, der ist Häretiker. Diese Autorität aber, Glaubensfragen zu entscheiden, wohnt an erster Stelle dem Papste inne. Denn im kanonischen Recht heißt es (24. qu. 1. c. 12.): „So oft eine Frage über eine Glaubenslehre auftaucht, bin ich der Überzeugung, alle unsere Brüder und Mitbischöfe sollen einzig und allein an Petrus d. h. an den, der im Namen Petri spricht und seine Ehre genießt, berichten; gegen dessen Ausspruch weder Augustinus noch Hieronymus noch überhaupt ein heiliger Lehrer seine eigene Ansicht aufrecht hält.“ Deshalb sagt Hieronymus (ad Damas papam in expositione symboli): „Das ist, heiligster Vater, die Lehre, welche wir in der heiligen Kirche gelernt haben; ist darin etwas minder vorsichtig und minder erfahren aufgestellt, so wünschen wir von Dir, der Du den Sitz und den Glauben Petri festhältst, gebessert zu werden. Wenn aber dieses Bekenntnis hier durch das Urteil Deines Apostelamtes bestätigt wird; dann wird sich jener, der mich beschuldigen will, selbst als einen unerfahrenen oder böswilligen oder nicht katholischen Menschen hinstellen; er wird mich nicht mehr als Häretiker bezeichnen können.“
