Sechster Artikel. Die knechtische Furcht bleibt mit der heiligen Liebe.
a) Dies wird bestritten. Denn: I. Augustin (in 1. Joan. tract. 9.) sagt: „Beginnt die Liebe in der Seele zu wohnen, so wird die Furcht fortgetrieben, die ihr den Platz bereitet hat.“ II. Röm. 5. wird gesagt: „Die heilige Liebe Gottes ist ausgegossen in unseren Herzen durch den heiligen Geist;“ und 2. Kor. 3.: „Wo der Geist des Herrn, da ist Freiheit.“ Also ist da nicht mehr knechtische Furcht. III. Die knechtische Furcht wird von der Selbstsucht verursacht, denn die Strafe vermindert das Gute des eigenen Selbst. Die heilige Liebe aber treibt aus die Selbstsucht; sie macht, daß man Gott liebt und sich verachtet, (Aug. 14. de civ. Dei ult.) Also verschwindet beim Eintreten der heiligen Liebe die knechtische Furcht. Auf der anderen Seite ist die knechtische Furcht eine Gabe des heiligen Geistes (Art. 4.); also wird sie nicht von der Liebe des heiligen Geistes hinweggenommen.
b) Ich antworte, die knechtische Furcht werde verursacht von der Liebe zu sich selbst; denn sie ist die Furcht vor der Strafe, und somit die Furcht vor Verminderung des eigenen Guten. Also kann die Furcht vor der Strafe in der gleichen Weise bestehen mit der heiligen Liebe wie die Liebe zu sich selbst mit der Liebe Gottes besteht. Denn gleichermaßen liebt und verlangt der Mensch Gutes für sich, wie er dessen Verlust fürchtet. Die Liebe zu sich selbst aber kann sein: 1. der heiligen Liebe entgegengesetzt, insofern jemand den letzten Endzweck in dem einzig seiner Person eigenen Guten sieht; — 2. in der heiligen Liebe eingeschlossen, insofern der Mensch sich in und wegen Gott liebt; — 3. verschieden zwar von der heiligen Liebe, aber nicht gerade ihr entgegengesetzt; insofern jemand wohl das eigene Gut, weil es sein eigen ist, liebt, aber nicht den letzten Endzweck darein setzt. So kann ich auch den Nächsten lieben; nicht gerade um Gottes willen, sondern aus Blutsverwandtschaft, Bequemlichkeit etc., was nicht mit der heiligen Liebe zusammenfällt, aber doch ihr nicht schroff gegenübersteht. So nun verhält es sich entsprechend mit der Furcht vor der Strafe. Denn die Trennung von Gott ist eine Strafe, welche die heilige Liebe im höchsten Grade flieht; das gehört also zur keuschen Furcht. Hier ist die Furcht vor Strafe eingeschlossen in der heiligen Liebe. Flieht aber jemand so das Übel, welches seinem eigenen beschränkten Gute entgegensteht, daß er darin schlechthin das Hauptübel und sonach im eigenen natürlichen Gute den letzten Endzweck sieht; so ist eine solche Furcht schroff entgegengesetzt der heiligen Liebe und besteht somit nicht mit ihr zusammen. Fürchtet schließlich jemand wohl den Verlust des eigenen Gutes, weil dasselbe ihm gehört und nicht auf Grund der Trennung von Gott; aber auch nicht in dem Grade, daß er in diesem eigenen Gute seinen letzten Endzweck erblickt und somit im Verluste desselben das Hauptübel; — so kann eine solche knechtische Furcht mit der heiligen Liebe bestehen und doch ist sie von ihr verschieden. Dabei ist jedoch zu bemerken, daß eine solche Furcht vor der Strafe, die darin nicht das Hauptübel erblickt, nicht eigentlich mehr eine knechtische als solche genannt wird. Somit bleibt die knechtische Furcht als präcis knechtische nicht mit der heiligen Liebe; sondern die innere Substanz nur bleibt, wie auch die Liebe zu sich selbst mit der heiligen Liebe bleibt.
c) Die Einwürfe sprechen von der knechtischen Furcht, insoweit sie präcis knechtisch ist.
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