Siebenter Artikel. Ohne die heilige Liebe kann keine wahre Tugend bestehen.
a) Das scheint nicht richtig zu sein. Denn: I. Wer die heilige Liebe nicht hat, thut trotzdem Gutes; wie z. B. den hungernden nähren, den nackten kleiden. Also hat er Tugenden; denn nur der Tugend ist es eigen, Gutes zu wirken. II. Die heilige Liebe kann nicht sein ohne Glauben; denn „sie geht aus von ungeheucheltem Glauben.“ (1. Tim. 1.) In den Ungläubigen aber sind wirkliche Tugenden; wie z. B. die Keuschheit, wenn sie ihre Begierden zügeln; die Gerechtigkeit, wenn sie recht urteilen. III. Die Wissenschaft und Kunst sind Tugenden. (6 Ethic 3.) Dergleichen aber besitzen die Sünder ohne die heilige Liebe. Auf der anderen Seite sagt der Apostel (1. Kor. 13.): „Wenn ich alle meine Besitztümer verteile, um die Armen zu nähren; und wenn ich meinen Leib dahingebe, daß er brenne, habe aber die Liebe nicht, so nützt mir dies nichts.“ Die wahre Tugend aber nützt sehr viel, nach Sap. 8.: „Nüchternheit lehrt sie und Gerechtigkeit, Klugheit und Stärke; nichts in der Welt ist nützlicher als das.“ Also ist ohne die heilige Liebe keine wahre Tugend zu denken.
b) Ich antworte, die Tugend richte sich auf das Gute. Das hauptsächlich leitende Gute aber ist der Zweck; und zwar der letzte Endzweck und der nächste Zweck. Dementsprechend nun besteht für den Menschen: 1. ein End- oder abschließendes Gut, nämlich der Besitz und Genuß des göttlichen Wesens, nach Ps. 72.: „Mir ist es ein Gut, Gott anzuhängen;“ und darauf richtet sich die heilige Liebe. Es besteht 2. für den Menschen ein nächstes, untergeordnetes Gut. Dieses ist nun entweder wahrhaft ein Gut; und dann ist es beziehbar auf das hauptsächliche, das Endgut oder den Endzweck. Oder es ist ein Scheingut, ein täuschendes und nicht ein wahrhaftes; und dann führt es ab vom Endgute, der ewigen Seligkeit. Somit ist auch eine schlechthin wahre Tugend nur jene, welche positive Beziehung von sich aus hat zum Haupt- und Endgute des Menschen; wie Aristoteles sagt (7 Physic.), „die Tugend sei die Verfassung in dem, was dem thatsächlichen Sein nach bereits vollendet ist zum Besten hin.“ Es kann demgemäß keine wahre Tugend ohne Liebe bestehen. Wird jedoch Tugend genommen, soweit sie auf einen beschränkten besonderen Zweck sich richtet, so kann allerdings eine Tugend bestehen ohne Liebe; aber nur, um das entsprechende beschränkte Gut zu erreichen. Ist nun dieses beschränkte Gut gleichfalls nur ein Scheingut, so wird die darauf beziehende Tugend mit Rücksicht auf dieses Gut allein als keine wahre Tugend betrachtet werden können, sondern als eine täuschende Ähnlichkeit mit der Tugend. So ist keine wahre Tugend die Klugheit der Geizigen, die da verschiedene Künste um Geld zu gewinnen ausdenkt. Und dasselbe ist der Fall mit der Gerechtigkeit derselben, kraft deren sie aus schwerer Furcht vor zeitlichem Nachteil und Schaden es verachten, fremdes Gut sich anzueignen; wie auch ebenso mit ihrer Mäßigkeit, kraft deren sie, um zu sparen, kostspielige Gastmähler vermeiden; und mit ihrer Stärke, insofern sie, wie Horatius sagt (lib. 1. ep. 1.) „alle Meere durchschiffen, um die Armut zu fliehen, und weder Wüsten scheuen noch Feuer.“ (Nach August. 4. cont. Julian. 3.) Ist aber jenes beschränkte Gut ein wahres, wie z. B. die Erhaltung des Vaterlandes oder dergl., so wird es wahre Tugend zwar sein, die sich darauf richtet; aber eine unvollkommene, wenn dieses Gute nicht bezogen wird auf das End- und vollendete Gut. Danach kann, schlechthin gesprochen, keine wahre vollendete Tugend ohne die Liebe bestehen.
c) I. Eine Thätigkeit, welche der Liebe entbehrt, kann gemäß dem ohne Liebe sein daß sie bezogen wird auf etwas, was der Liebe fremd ist; und so ist eine Thätigkeit immer schlecht. (August. 4. cont. Julian. 3.) Der Akt eines Ungläubigen ist somit immer schlecht, insoweit derselbe den Charakter des Unglaubens trägt; mag er einen nackten bekleiden oder Ähnliches thun, insoweit dies nämlich bezogen wird auf den Zweck seines Unglaubens. Ferner kann eine Thätigkeit entbehren der Liebe, insoweit sie von einer Gabe Gottes im Menschen ausgeht, vom Glauben, von der Hoffnung oder von einer natürlichen Vollkommenheit, welche nicht ganz von der Sünde hinweggenommen wird. Danach kann ein Akt in seiner „Art“ gut sein, der ohne Liebe ist; aber er ist nicht in vollendeter Weise gut, denn er enbehrt der positiven Beziehung zum letzten Endzwecke. II. Wie nicht schlechthin eine wahrhafte Wissenschaft da sein kann, wo die rechte Berücksichtigung der ersten unbeweisbaren Principien, fehlt; so kann auch keine wahrhafte Tugend bestehen, wo die Beziehung zum Endzwecke fehlt, welche durch die Liebe hergestellt wird. III. Wissenschaft und Kunst schließen wesentlich ein die Beziehung zu einem besonderen beschränkten Gute; nicht die Beziehung zum letzten Endzwecke, wie dies die moralischen Tugenden thun, die den Menschen schlechthin zu einem guten machen.
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