Achter Artikel. Die heilige Liebe ist die vollendende Form aller Tugenden.
a) Dies wird geleugnet. Denn: I. Die Liebe ist weder die Exemplarform für die anderen Tugenden, sonst müßten dem Gattungswesen nach alle Tugenden Liebe sein; noch ist sie die innere, den Wesenscharakter herstellende Form, sonst wären die anderen Tugenden auch der Zahl nach nicht von der Liebe verschieden. So ist sie in keiner Weise die Form anderer Tugenden. II. Die Liebe ist die Wurzel und das Fundament für die anderen Tugenden, nach Ephes. 3.: „In der Liebe gewurzelt und gegründet.“ Die Wurzel oder das Fundament aber hat nicht den Charakter der Form, sondern vielmehr des Stoffes, welcher der erste Teil ist im Entstehen. III. Form, Zweck und wirkende Ursache fallen nicht in eins der Zahl nach zusammen. Die Liebe aber ist der Zweck und die Mutter der Tugenden. Also ist sie nicht deren Form. Auf der anderen Seite bezeichnet Ambrosius die Liebe als die Form der Tugenden.
b) Ich antworte; im Bereiche des Moralischen wird die Form genommen in erster Linie vom Zwecke her. Denn das Princip der moralischen Thätigkeiten ist der Wille, dessen Gegenstand und bildende Form der Zweck ist. Die Form, welche den betreffenden Akt bildet, folgt aber immer der Form, welche in der einwirkenden Ursache sich findet. Was also im Bereiche des Moralischen dem Akte die Beziehung zum Zwecke giebt, das muh ihm auch die Form geben. Offenbar giebt die heilige Liebe nun den Thätigkeiten aller anderen Tugenden die Beziehung zum letzten Endzwecke; und danach also giebt sie ihnen ebenfalls die entsprechende Form. Danach also wird die Liebe genannt die Form der Tugenden; denn die Tugenden selber werden als geformt bezeichnet mit Beziehung auf die Thätigkeiten.
c) I. Die Liebe ist im einwirkenden Sinne die Form der Tugenden; insoweit sie nämlich allen die Form auslegt gemäß dem Endzwecke. II. Die Liebe erzeugt und ernährt alle Tugenden; und so ist sie Wurzel und Fundament; nicht als ob sie den Charakter des Stoffes hätte. III. Die Liebe lenkt alle Tugenden zum Zwecke hin und wird demgemäß Zweck aller Tugenden genannt. Und weil sie aus dem Begehren nach dem Endzwecke heraus die Akte der anderen Tugenden erzeugt, ist sie deren Mutter.
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