Sechster Artikel. Die heilige Qebe ist die hervorragendste unter allen Tugenden.
a) Das wird geleugnet. Denn: I. Die Vernunft ist ein höher stehendes Vermögen wie der Wille. Also stehen auch die Tugenden in der Vernunft und an erster Stelle der Glaube höher wie die heilige Liebe im Willen. II. Das Werkzeug ist geringer wie der haupteinwirkende: „Der Glaube aber wirkt durch die Liebe,“ also wie durch ein Werkzeug. Also steht der Glaube höher wie die Liebe. III. Wenn etwas zum Anderen hinzugefügt wird, so muß es vollendeter sein. Die Hoffnung aber fügt zum Gegenstande der Liebe hinzu; nämlich zum Guten das Schwererreichbare. Also steht sie höher wie die Liebe. Auf der anderen Seite heißt es 1. Kor. 13.: „Größer aber ist die Liebe.“
b) Ich antworte, von den zwei Regeln der menschlichen Tugenden ist Gott die erste, von dem auch die Vernunft als die nähere Regel ihre Richtschnur empfängt. Daher stehen die theologischen Tugenden, welche jene erste und höchste Richtschnur, Gott nämlich, berühren, höher wie alle anderen Tugenden. Nun erreichen der Glaube und die Hoffnung Gott als Richtschnur, nur insoweit die Kenntnis des Wahren oder der Beistand zur Erreichung des höchsten Gutes von Ihm kommt. Die Liebe aber bleibt in Gott selber stehen; nicht in dem, was von Ihm kommt. Also ist sie größer wie der Glaube und die Hoffnung. So ist auch die Klugheit die erste unter den Moraltugenden, weil sie die Vernunft selbst als ihre Regel berührt; während die anderen nur die Vernunft berühren, insoweit von ihr die rechte Mitte für die Leidenschaften oder Thätigkeiten ausgeht.
c) I. Die Thätigkeit der Vernunft vollzieht sich dadurch, daß das Erkannte im erkennenden ist; und so hängt der Adel dieser Thätigkeit ab vom Grade der Vernunft im Sein. Das Begehren aber vollzieht sich in der Hinneigung des Begehrenden zum einzelnen Gegenstande draußen als dem Abschlusse; und somit hängt der Adel dieser Thätigkeit ab vom Adel des Gegenstandes, der erstrebt wird. Was nun tiefer als die Seele steht, erhält höheren Wert im Sein, wenn es in die Vernunft tritt; es nimmt da am vernünftigen Sein nämlich teil. Was aber höher steht wie die Seele, das hat in sich höheres Sein wie in der vernünftigen Seele. Mit Bezug auf die niedrigeren Dinge also ist die Kenntnis besser wie die Liebe (6 Ethic 7.); und somit sind demangemessen die Tugenden in der Vernunft insoweit höher wie die im begehrenden Teile, die moralischen. Mit Rücksicht aber auf die höheren Dinge und zumal auf Gott ist die Liebe hervorragender wie die Kenntnis; und somit steht die heilige Liebe höher wie der Glaube. II. Der Glaube wirkt nicht durch die Liebe wie durch ein Werkzeug, sondern wie durch die ihn selber vollendende Form. III. Die heilige Liebe schließt ein die Einigung mit dem nämlichen Gute, was Gegenstand der Hoffnung ist; jedoch schließt diese das Fernsein von demselben ein. Daher ist der Gegenstand der Liebe kein Gut als schwer zu erreichendes; und doch steht sie höher wie die Hoffnung.
