Vierter Artikel. Die heilige Lebe kann gesteigert werden.
a) Dies scheint nicht. Denn: I. Es giebt einen zweifachen Umfang: einen körperlichen, der jedenfalls der heiligen Liebe nicht gebührt; und einen der bloßen Kraft nach, der von den Gegenständen abhängt. Nach diesem letzteren nun kann die heilige Liebe auch nicht wachsen; denn die geringste Liebe liebt Alles, was kraft der Liebe geliebt werden soll. II Die heilige Liebe ist die größte Tugend. Also kann sie nicht mehr wachsen. III. Das Anwachsen ist eine Bewegung. Was also anwächst, das ist in Bewegung. Was demgemäß seinem Wesen nach anwächst, ist in seinem inneren Wesen in Bewegung. In seinem inneren Wesen aber ist nur das in Bewegung, was entsteht und vergeht. Wächst also die heilige Liebe in ihrem inneren Wesen, so kann das nur in der Weise geschehen, daß sie von neuem entsteht oder vergeht, was unzulässig ist. Auf der anderen Seite sagt Augustin (tract. 74. in Joan.): „Die heilige Liebe verdient, daß sie vermehrt werde, auf daß sie vermehrt es verdiene, vollendet zu werden.“
b) Ich antworte, die heilige Liebe auf dem irdischen Pilgerwege könne anwachsen. Denn deshalb werden wir Pilger genannt, weil wir zu Gott hinstreben, welcher der letzte Endzweck unserer Seligkeit ist. Auf diesem Pilgerwege aber schreiten wir um so mehr vor, je mehr wir Gott nahekommen, dem wir nicht zwar mit körperlichen Schritten, aber mit den Hinneigungen der Seele uns nähern. Diese Annäherung nun wird von der heiligen Liebe verursacht, welche den Geist mit Gott verbindet. Zum Wesen der heiligen Liebe auf dem irdischen Pilgerwege also gehört es, daß sie anwachsen kann; sonst hörte das Fortschreiten auf. Deshalb sagt Paulus (1. Kor. 13.): „Einen noch mehr hervorragenden Weg will ich euch zeigen;“ er nennt also die heilige Liebe einen Weg.
c) I. Nicht einzig nach der Zahl der betroffenen Gegenstände wird der Umfang einer Kraft bemessen; sondern auch nach der mehr oder minder großen Anstrengung oder dem Inhalte der Thätigkeit, soweit etwas also mehr oder minder kräftig geliebt wird. II. Der Gegenstand der Liebe ist der denkbar größte; und danach ist sie die größte Tugend. Diesem Gegenstande aber kann sie mehr oder minder nahekommen. III. Manche meinten, die heilige Liebe werde nicht in ihrem inneren Wesen vermehrt, sondern nur soweit sie im Subjekte wurzelt oder nach der ihr zukommenden Glut. Diese aber wußten die Bedeutung ihres eigenen Ausdruckes nicht. Denn da die heilige Liebe eine zum Wesen des Menschen hinzutretende Eigenschaft, ein accidens, ist, so ist ihr Sein eben nichts Anderes als ein Im-Subjekte-sein, ein Innewohnen. In ihrem Wesen also anwachsen ist für die heilige Liebe nichts Anderes als mehr und mehr Wurzel fassen im betreffenden Subjekte. Ähnlich ist sie ihrem Wesen nach zur Thätigkeit hingeordnet. Also in ihrem Wesen stärker werden will nichts Anderes sagen als daß sie mehr Wirksamkeit hat, um den Akt der Liebe hervorzubringen. Sie wird also nicht dem Wesen nach vermehrt, als ob sie anfinge oder aufhörte, im Subjekte zu sein; sondern so, daß sie mehr und mehr das Subjekt durchdringt.
