Achter Artikel. Die heilige Liebe in diesem Leben kann vollkommen sein.
a) Dies wird bestritten. Denn: I. Diese Vollkommenheit wäre am meisten in den Aposteln gewesen; was Paulus leugnet. (Phil. 3,12.) II. Augustin (83 Qq. 36.) sagt: „Das Größerwerden der Liebe ist das Minderwerden der Begierde; wo die Liebe vollendet ist, da ist keine Begierde.“ Dann wäre aber keine Sünde in uns, was Joh. 1, 1. leugnet: „Wenn wir sagen, wir hätten keine Sünde, so verführen wir uns selbst. Denn jede Sünde kommt von ungeordneter Begierde. III. Was bereits vollkommen ist, kann nicht mehr anwachsen. Die Liebe aber kann endlos wachsen. Auf der anderen Seite sagt Augustin (I. Joan. tract. 5.): „Die beilige Liebe, nachdem sie gekräftigt worden, wird vollendet; nachdem sie vollendet worden, sagt sie: Ich wünsche, aufgelöst zu werden und mit Christo zu sein.“ Das aber ist möglich; denn das sagte Paulus. Also kann die Liebe in diesem Leben vollkommen sein.
b) Ich antworte, die Vollendung der Liebe kann verstanden werden: 1. von seiten des Liebwerten; 2. von seiten des Liebenden. Sie ist vollendet mit Rücksicht auf das Liebwerte, wenn sie dieses liebt, soweit auch immer es liebwert ist. Danach kann nun die heilige Liebe nie vollendet sein, außer in Gott selbst; denn Gott ist unendlich gut, also kann Er nie so viel geliebt werden als Er geliebt zu werden verdient. Von seiten des Liebenden ist die Liebe vollkommen, wenn derselbe liebt, so viel er kann. Und das geschieht:
a) wenn das ganze Herz ganz und gar dem thatsächlichen Akte nach auf Gott sich richtet, was im Himmel der Fall sein wird; —
b) wenn jemand all sein Streben darauf hinlenkt, Gott und göttliche Dinge zu betrachten und nur so viel die Notwendigkeit verlangt dem Vergänglichen sich zuwendet, was die Vollendung der heiligen Liebe auf Erden ist; sie ist aber nicht gemeinsam allen, welche die Liebe besitzen; —
c) wenn jemand dem Zustande nach sein ganzes Herz in Gott einschließt, so daß er nichts denkt oder will, was der göttlichen Liebe entgegen sei; und das ist die Vollendung, die allen, welche Liebe haben, auf Erden gemeinsam ist!
c) I. Der Apostel leugnet von sich die Vollendung der heiligen Liebe, wie sie im Himmel ist. Deshalb sagt Augustin (2. de peccator. Merit. et Remiss. 13.): „Paulus war als auf dem Pilgerwege befindlich vollkommen; aber er war noch nicht zum Ende der Pilgerreise gelangt.“ II. Dies hat Geltung mit Rücksicht auf die läßlichen Sünden, welche zwar nicht dem Zustande der Liebe, wohl aber deren Thätigkeit oder thatsächlichen Äußerung entgegen sind; somit nicht der Vollendung des Pilgerweges widersprechen, wohl aber der Vollendung der Heimat. III. Die Vollendung, welche dem Pilgerwege entspricht, ist keine Vollendung schlechthin; deshalb kann sie immer wachsen.
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