Siebenter Artikel. Für die Vermehrung der heiligen Liebe giebt es keinen endgültigen Abschlußpunkt in diesem Leben.
a) Das Gegenteil wird nachgewiesen: I. Jede Bewegung ist auf einen bestimmten Abschlußpunkt gerichtet. Die Vermehrung der heiligen Liebe aber ist eine Bewegung. Also strebt sie nach einem bestimmten Abschlüsse. II. Keine bestimmende Form überschreitet die Fassungskraft ihres Trägers oder Subjekts. Träger der heiligen Liebe aber ist die vernünftige Kreatur, welche an sich begrenzt ist. III. Alles Begrenzte, beständig vergrößert, kann erreichen den Umfang von etwas anderem Begrenzten, mag dies auch bei weitem größer sein; es müßte denn dies, was durch das Vergrößern hinzutritt, immer minder und minder werden. So z.B. wird man wenn zu der einen Linie hinzutritt das, was abgezogen worden von der anderen, die ins Endlose immer mehr geteilt wird, niemals zu jenem bestimmten Umfange gelangen, der zusammengesetzt wäre aus beiden Linien: aus der, welche hinzutritt und aus jener, zu welcher sie hinzutritt. Letzteres aber ist bei der heiligen Liebe nicht der Fall. Denn es ist durchaus nicht erforderlich, daß das Zweite, was zur gegebenen Liebe hinzutritt, minder sei wie das, was vorher als Erstes hinzugetreten war; sondern es kann gleich sein oder größer. Da nun also die Liebe im Himmel etwas Begrenztes ist, so folgt, daß die Liebe auf Erden, wenn sie ohne Ende vermehrt werden kann, jener schließlich gleich sein wird; was unzulässig ist. Auf der anderen Seite sagt der Apostel (Phil. 3.): „Nicht als ob ich bereits empfangen hätte oder bereits vollkommen wäre; ich strebe aber danach, wenn ich irgendwie es erfassen kann,“ wozu die Glosse (Aug. ps. 69) sagt: „Keiner von den Gläubigen, und mag er noch so viel fortgeschritten sein, möge sagen: Es genügt mir. Wer dies sagt, hört auf zu pilgern, ehe er das Ziel erreicht hat.“
b) Ich antworte, der Vermehrung einer Form könne man einen Abschluß geben: 1. auf Grund des Wesenscharakters der Form selber, welche ein bestimmtes Maß in sich schließt; wie dies z. B. bei der Blässe der Fall ist; wenn deren Grenzen durch beständiges Anderswerden überschritten sind, so wird daraus das Weiße oder Schwarze; — 2. auf Grund der einwirkenden Kraft, deren Umfang sich nicht über ein bestimmtes Maß erstreckt; — 3. auf Grund der Fassungskraft des aufnehmenden Trägers oder des Subjekts, welche begrenzt ist. Nun hat die heilige Liebe ihrem Wesenscharakter nach kein bestimmtes Maß für ihr Größerwerdcn; denn sie ist die Mitteilung von seiten der unbegrenzten Liebe; — sie hat zudem einen wirkenden Grund, der unendlich ist: den heiligen Geist; — und ihr Träger oder Subjekt wächst beständig an Fassungskraft, je mehr die Liebe wächst. Also giebt es keinen Abschluß für das Anwachsen der heiligen Liebe.
c) I. Das Anwachsen der heiligen Liebe hat einen Abschluß; aber nicht in diesem Leben. II. Die Fassungskraft der vernünftigen Kreatur wächst beim Anwachsen der heiligen Liebe, nach 2. Kor. 6.: „Unser Herz ist erweitert worden.“ III. Jener Einwurf berücksichtigt den Umfang zweier Dinge von ein und derselben Gattung; wird z. B. so viel auch immer die Linie größer, sie erreicht nie den Umfang der Oberfläche. Die Liebe auf Erden aber ist nicht derselben Wesensgattung wie die Liebe im Himmel; denn die eine folgt der Kenntnis des Glaubens, die andere der des Schauens.
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