Neunter Artikel. Die Grade der Liebe unterscheiden sich gemäß dem Anfangen, dem Fortschreiten, dem Vollendetsein.
a) Dies wird unzulässigerweise gesagt. Denn: I. Zwischen dem Anfange der Liebe und deren Vollendetsein sind endlos viele Zwischenpunkte. Also durfte dafür nicht ein einziger Grad angesetzt werden. II. Fängt die heilige Liebe an, so beginnt auch ihr Fortschreiten. Da ist also kein Unterschied. III. So vollendet die heilige Liebe hier auf Erden auch immer sei, sie kann noch wachsen. Daß die Liebe aber wächst, das ist ihr Fortschreiten. Also ist letzteres nicht unterschieden vom Vollendetsein. Auf der anderen Seite fagt Augustin (1. Joan. tract. 5.): „Wenn die heilige Liebe erzeugt ist, wird sie genährt;“ — das ist der Anfang; „ist sie genährt, dann wird sie stark;“ — das ist Fortschreiten; „ist sie erstarkt, dann wird sie vollendet;“ — dies ist das Vollendetsein.
b) Ich antworte, die Vermehrung der heiligen Liebe könne betrachtet werden gemäß dem körperlichen Wachstum des Menschen, welches einen Unterschied zuläßt nach den verschiedenen Thätigkeiten und Bestrebungen, wozu der Mensch geführt wird. So ist das Kindesalter jenes, wo man noch nicht den freien Gebrauch der Vernunft hat; dann giebt es ein anderes Alter, wo der Mensch sprechen und seiner Vernunft sich bedienen kann; dann kommt die Reife, wo er einen anderen zu zeugen vermag. So nun verhält es sich mit der heiligen Liebe. Denn zuerst fängt der Mensch an, von der Sünde und deren Begierden sich zu entfernen, welche den Geist zum Gegensätzlichen der Liebe bestimmen wollen; — das ist der Anfang. Dann kommt das Streben danach, daß er im Guten fortschreite; und dies geht die fortschreitenden an, in denen das Hauptaugenmerk darauf gerichtet ist, daß das Gute erstarkt. Endlich wird das Hauptaugenmerk darauf gerichtet, daß der Mensch Gott anhängt und Gottes genießt; — das sind die vollendeten, die da sagen: „Ich wünsche aufgelöst und mit Christo zu sein.“ Auch bei der Ortsbewegung sehen wir zuerst, daß sich das Bewegliche vom Ausgangspunkte entfernt; dann daß es sich dem Schlußpunkte nähert; endlich daß es ruht im Abschlusse.
c) I. Aller bestimmte Unterschied in dem Wachstume der Liebe ist in diesen drei Unterscheidungen eingeschlossen; wie alle Teilung des in sich Zusammenhängenden einbegriffen ist im Anfange, Mittelpunkt und Ende. II. Die in der Liebe anfangen, schreiten wohl zugleich fort; ihre Hauptsorge aber ist, daß sie den Sünden widerstehen, welche gegen sie an kämpfen. Nachher, wenn sie diesen Streit weniger fühlen, streben sie um so sicherer nach dem Vollkommenen; sie halten in der einen Hand das Schwert, mit der anderen arbeiten sie, nach 2. Esdr. 4. III. Die Hauptsorge der vollendeten ist nicht, fortzuschreiten, wenn sie dies auch thatsächlich thun; sie wollen vor Allem Gott anhängen. Die Anfänger und fortschreitenden wollen dies zwar auch; aber sie fühlen noch zu sehr den Kummer und die Sorge wegen des Angriffes der Sünden und des Fortschreitens in der Tugend.
