Sechster Artikel. Die Sünder müssen kraft der heiligen Liebe geliebt werden.
a) Dies wird bestritten. Denn: I. Ps. 118. heißt es: „Die Sünder habe ich gehaßt.“ II. Der Beweis der Liebe ist: „Gutes thun,“ sagt Gregor (hom. 30. in Evgl.). Die Gerechten aber bieten den Sündern nichts Gutes, nach Ps. 100.: „Am Morgen tötete ich alle Sünder der Erde;“ und Exod. 22. befiehlt Gott: „Lasse die Boshaften nicht leben.“ III. Freunde müssen Freunden Gutes wünschen. Die Heiligen aber wünschen den Sündern Böses, nach Ps. 9.: „Daß die Sünder in die Hölle sinken.“ IV. Die Freundschaft macht, daß man sich freut am Freunde und dasselbe will wie er. Die Heiligen aber freuen sich nicht mit den Sündern und wollen nicht dasselbe wie sie. V. Zusammenleben ist eigen der Freundschaft. Von den Sündern aber gilt 2. Kor. 6.: „Entfernt euch aus ihrer Mitte.“ Auf der anderen Seite sagt Augustin (1. de doct. christ. 30.): Offenbar ist unter dem Nächsten, den wir lieben sollen, jeder Mensch verstanden.“
b) Ich antworte, gemäß ihrer Natur, nach der sie die Seligkeit genießen können, seien die Sünder zu lieben; denn die gemeinschaftliche Grundlage der heiligen Liebe ist die ewige Seligkeit; — gemäß der Schuld aber, die ein Hindernis bildet für die Seligkeit, seien sie aus dem gleichen Grunde zu hassen; selbst wenn es Vater, Mutter etc. wäre, wie Luk. 14. geschrieben steht. Daß sie also Sünder sind, müssen wir in ihnen hassen; daß sie Menschen sind, in heiliger Liebe lieben.
c) I. Der Prophet haßte die Bosheit in den Sündern; und das ist der vollkommene Haß, nach Ps. 138.: „Mit vollendetem Hasse haßte ich sie.“ Das, was jemandem zum Übel gereicht, hassen; und das, was für sie ein Gut ist, lieben; Beides gehört zur heiligen Liebe. II. Den Freunden, die sündigen (9 Ethic. 3.), dürfen nicht die Wohlthaten der Freundschaft vorenthalten werden, so lange Hoffnung da ist auf ihre Besserung; vielmehr muß man ihnen helfen, daß sie die Tugend wiedererlangen. Sind sie aber vollendet in der Bosheit und unheilbar, so muß man sich von ihnen entfernen. Derartige Sünder also, an deren Besserung man verzweifeln mußte und die viel schaden konnten, befahl das Gesetz zu töten. Dies aber thut der Richter ebenfalls aus Liebe zum Gemeinbesten. Und zudem dient dem Sünder selber der Tod als Sühnung seiner Schuld, wenn er sich bekehrt. Bekehrt er sich nicht, so wird die Gewalt ihm genommen, weiter zu sündigen. III. Dergleichen Verwünschungen in der heiligen Schrift lassen eine dreifache Erklärung zu: 1. in der Weise einer Vorherverlündigung, so daß „sie sollen“ steht für „sie werden“; — 2. in der Weise des Wunsches, nicht daß der Sünder gestraft, sondern daß die Gerechtigkeit Gottes offenbar erscheine, nach Ps. 57.: „Der Gerechte wird sich freuen, wenn er die Rache sieht;“ denn Gott selbst „freut sich nicht am Verderben der Gottlosen“ (Sap. 1.), aber „Er ist gerecht und liebt die Gerechtigkeit“ (Ps. 10.); — 3. in der Weise, daß die Schuld vernichtet werde und die Menschen bleiben. IV. Wir lieben die Sünder; nicht als ob wir wollten, was sie wollen; sondern damit wir machen, daß sie wollen, was wir wollen: „Sie werden zu Dir sich bekehren; nicht Du zu ihnen,“ heißt es Jeremias 15. V. Die Schwachen sollen nicht mit den Sündern zusammenleben, damit sie nicht verführt werden; die Vollkommenen können lobwerterweise dies, damit sie die Sünder bekehren. So aß und trank der Herr mit den Sündern. (Matth. 9.) Alle aber müssen den Verkehr mit den Sündern, soweit ihre Sünde dabei in Betracht kommt, meiden; und danach spricht Paulus; weshalb er fortfährt (2. Kor. 6.): „Ihr Unreines berührt nicht;“ nämlich die Zustimmung zur Sünde.
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