Erster Artikel. Der heiligen Liebe entspricht es mehr, zu lieben wie geliebt zu werden.
a) Das Gegenteil scheint wahr. Denn: I. Die heilige Liebe ist besser in den besseren. Die besseren aber werden mehr geliebt. Also ist es besser, geliebt zu werden wie zu lieben. I. Was in der Mehrzahl sich findet, scheint in höherem Grade der Natur zu entsprechen. „Die bei weitem Meisten aber wollen vielmehr geliebt werden wie lieben und immer giebt es viele Liebhaber der Schmeichelei;“ sagt Aristoteles (8 Ethic. 8.) III. Darum eben daß sie geliebt werden, lieben die Menschen. Denn Augustin schreibt (de catechiz. Rudibus 4.): „Es giebt keine größere Einladung, um geliebt zu werden, wie jemandem durch Liebeswerke zuvorkommen.“ Sonach ist geliebt werden vorzüglicher als zu lieben; wie der Zweck voransteht dem Zweckdienlichen. Auf der anderen Seite sagt Aristoteles (l.
c).: „Die Freundschaft besteht mehr im Lieben wie im Geliebtwerden.“
b) Ich antworte, Lieben oder Zuneigung zuwenden kommt der heiligen Liebe als solcher zu, insoweit sie Freundschaft ist. Denn die heilige Liebe hat als Tugend die Hinneigung zu ihrer eigenen Thätigkeit. Geliebtwerden aber ist nicht die Thätigkeit dessen der geliebt wird, sondern dies ist das Lieben; während geliebt zu werden ihm zukommt, insoweit er den Charakter von etwas Gutem, einen Vorzug in sich trägt, der da Gegenstand der Liebe eines anderen ist. Also Lieben ist die Thätigkeit, welche der Liebe im eigentlichen Sinne zugehört, nicht das Geliebtwerden. Deshalb werden Freunde mehr deshalb gelobt, weil sie lieben, als weil sie geliebt werden; vielmehr werden getadelt jene, die nicht lieben, trotzdem sie geliebt werden. Und sodann wird das Nämliche bezeugt dadurch, daß die Mütter, welche ja an und für sich am meisten lieben, mehr danach streben, zu lieben als danach, geliebt zu werden. Denn manche unter ihnen „geben ihre Kinder einer Amme und lieben wohl; wiedergeliebt zu werden aber, darauf halten sie nicht viel.“
c) I. Die besseren sind auf Grund dessen liebwerter. Insofern sie aber eine vollkommenere Liebe haben, lieben sie mehr; freilich nach einem gewissen Verhältnisse. Denn der bessere liebt das, was unter ihm ist, nicht minder als dies es verdient; jener aber, der minder gut ist, reicht nicht hinan, um zu lieben jenen, der besser ist sowie er es verdient. II. „Die Menschen wollen im selben Grade geliebt werden, wie sie danach trachten, geehrt zu werden,“ sagt Aristoteles (l. c.). Denn durch Beides wird ein Vorzug bezeugt, der in ihnen sich findet, da nur Gutes, nur ein Vorzug liebwert ist. Geliebt werden oder geehrt werden also wollen die Menschen wegen etwas Anderem; nämlich damit offenbar werde das Gute in ihnen. Lieben aber kommt denen, welche die heilige Liebe in sich haben, an und für sich zu, wie das eigenste Gut, welches der Liebe entspricht; wie auch jeder Tugendakt das der betreffenden Tugend eigens entsprechende Gut ist. Mehr also lieben will die Liebe wie geliebt werden. III. Geliebt zu werden, danach trachten manche; nicht aber als ob dies ihr Zweck wäre, sondern weil dies ein Weg ist, der dazu führt, daß, der Mensch liebt.
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