Fünfter Artikel. Almosengeben ist ein Gebot.
a) Das scheint eine falsche Behauptung zu sein. Denn: I. Gebot und Rat sind verschieden. Vom Almosen aber heißt es (Dan. 4.): „Mein Rat gefalle dem Könige: deine Sünden kaufe los durch Almosen.“ Also ist hier nicht von einem Gebote die Rede. II. Jeder kann seinen Besitz gebrauchen und ihn für sich behalten. Also ist es erlaubt, kein Almosen zu geben. Also ist Almosengeben kein Gebot. III. Wäre das Almosengeben ein Gebot, so müßte es für eine gewisse bestimmte Zeit verpflichten; und wenn zur selben der betreffende kein Almosen gäbe, so sündigte er schwer. Dies scheint aber nicht. Denn immer kann man mit Wahrscheinlichkeit meinen, daß dem armen von anderer Seite her beigestanden werden könne und daß das, was als Almosen gegeben werden solle, für die eigene Person jetzt oder für die Zukunft notwendig sei. IV. Alle Gebote Gottes sind auf die zehn Gebote zurückführbar. In diesen aber steht nichts von Almosengeben. Also besteht da kein Gebot. Auf der anderen Seite wird niemand mit ewigen Strafen bedroht, der nicht ein Gebot übertritt. Matth. 25. aber wird ewige Strafe denen angedroht, die kein Almosen geben. Also ist Almosengeben ein Gebot.
b) Ich antworte, da die Nächstenliebe geboten ist, so falle das Alles unter Gebot, ohne was die Nächstenliebe nicht bestehen kann: „Den Nächsten aber sollen wir nicht nur mit der Zunge und in Worten lieben, sondern im Werke und in der Wahrheit.“ Daß wir also jemandem nicht nur Gutes wollen, sondern es ihm gegenüber auch thun; dazu ist notwendig, daß wir den Bedürfnissen desselben zu Hilfe kommen, was vermittelst des Almosengebens geschieht. Da aber Gebote nur mit Rücksicht auf Tugendakte gegeben werden, deshalb ist es erfordert, daß das Almosen in der Weise unter ein Gebot falle, wie die betreffende Thätigkeit ein notwendiger Ausfluß der Tugend ist; nämlich insoweit die recht geregelte Vernunft es erheischt. Da nun ist etwas zu berücksichtigen von seiten des gebenden und etwas von seiten des empfangenden. Nach der ersten Seite hin muß das Almosen von dem gegeben werden, was für den betreffenden überflüssig ist; nach Luk. 11.: „Was übrig bleibt, davon gebet Almosen.“ Und ich spreche hier von „überflüssig“, nicht allein mit Rücksicht auf die einzelne Person selber, sondern auch mit Rücksicht auf andere, deren Obsorge die betreffende einzelne Person hat; so daß da ein doppeltes „Notwendige“ besteht: ein Notwendiges mit Rücksicht auf die Person und ein Notwendiges mit Rücksicht auf die Würde. Denn zuerst muß jeder seine eigenen Bedürfnisse befriedigen und die jener Personen, welche ihm anvertraut sind, ehe er mit dem Reste den Bedürfnissen anderer genügen kann. So nimmt auch die Natur des Körpers zuerst, was sie zur eigenen Erhaltung bedarf; und das Überflüssige dient der Erzeugung. Von seiten des empfangenden aber muß ein Bedürfnis vorliegen; sonst bestände kein Grund dafür, ihm Almosen zu geben. Da aber nicht ein einzelner den Bedürfnissen aller genügen kann; so verpflichtet nicht jegliches Bedürfnis unter Gebot, sondern nur jenes Bedürfnis, ohne dessen Befriedigung der bedürftige nicht sein Leben erhalten kann. In diesem Falle gilt das Wort des heiligen Ambrosius (1. de off. 30.): „Nähre jenen, der vor Hunger stirbt; nährst du ihn nicht, so bist du seines Todes schuldig.“ Also vom Überflüssigen Almosen geben einerseits; und andererseits dem Almosen geben, der in äußerster Not ist; — das ist Gebot. In anderer Weise Almosen geben; — das ist Rat.
e) I. Daniel sprach zu einem Könige, der Gottes geoffenbartem Gesetze nicht Unterthan war; was also an und für sich Gebot war, mußte er ihm vorlegen in der Weise eines Rates. Oder es handelte sich um den Fall, wo Almosengeben kein Gebot ist. II. Der Besitz der zeitlichen Güter, die Gott verleiht, ist dem betreffenden Menschen zu eigen; der Gebrauch aber derselben erstreckt sich nicht nur auf den Besitzer, sondern auch auf jene, die mit dem Überflusse aus Almosen unterhalten werden können. Deshalb fagt Basilius zu Luk. 12. (Destruam horrea): „Wenn du aber bekennst, daß Gott dir deine zeitlichen Güter verliehen hat; ist dann Gott ungerecht, daß Er uns ungleich seine Gaben mitteilt? Warum hast du Überfluß und jener bettelt, außer weil du die Verdienste einer guten Verwaltung erwerben sollst und jener die Belohnung der Geduld erhalte? Das Brot des hungrigen ist es, das du festhältst; des nackten Kleid, das du bei dir hast in deiner Kleiderkammer; der Schuh des Barfüßlers fault bei dir; das Geld des bedürftigen ist bei dir in die Erde vergraben. So viele Ungerechtigkeiten begehst du, als du zu geben vermagst.“ Das Nämliche fagt Ambrosius (serm. 64. de temp.). III. Wenn einesteils von seiten des empfangenden dringendes Bedürfnis erscheint und keiner bereit ist, ihm zu helfen; andernteils aber von seiten des gebenden Überfluß über das Notwendige hinaus besteht, insoweit dies vernünftigerweise geschlossen werden kann; — dann ist es eine Todsünde, nicht Almosen zu geben. Und es dürfen nicht alle Fälle erwogen werden, die eintreten können, denn dies wäre „an den morgigen Tag denken,“ was der Herr Matth. 6. verbietet. Das „Überflüssige“ und das „Notwendige“ muß nach vernunftgemäßer Abschätzung, wie solches im gewöhnlichen Leben beurteilt wird, gewogen werden. IV. Alle Hilfe, die man dem Nächsten leistet, ist im vierten Gebote eingeschlossen. Denn Paulus erklärt es so 1. Tim. 4.: „Die Hingebung (pietas) ist nützlich für Alles, weil sie die Verheißung des Lebens hat desjenigen, welches in der Zeit abläuft, und des zukünftigen,“ welche Verheißung Exod. 20. dem vierten Gebote hinzugefügt wird. Unter der Hingebung aber wird inbegriffen das Darreichen von Almosen.
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