Sechster Artikel. Das Verhältnis des Almosen zum Notwendigen.
a) Vom Notwendigen soll man kein Almosen geben. Denn: I. Man darf nicht die Ordnung in der heiligen Liebe verkehren. Diese aber gebietet, sich selbst mehr zu lieben wie den Nächsten. Also darf man auch nicht, was die Wirkung der Liebe, das Almosen, anbelangt, sich selbst das Notwendige entziehen, um dem Bedürfnisse anderer abzuhelfen. II. Wer das ihm Notwendige fortschenkt, ist ein Verschwender des eigenen Vermögens; begeht also etwas Sündhaftes. III. 1. Tim. 5. sagt Paulus: „Wer für die Seinigen und für sein Gesinde nicht Sorge trägt, hat den Glauben verleugnet und ist schlechter wie der Ungläubige.“ Giebt er aber von dem, was ihm oder seinem Hausstande notwendig ist, so fällt er unter diese Drohung des Apostels. Also. Auf der anderen Seite fagt der Herr bei Matth. 19.: „Willst du vollkommen sein, so gehe hin; verkaufe Alles, was du hast, und gieb es den armen.“
b) Ich antworte, notwendig ist einmal das, wovon jemand für sich selbst und die angehörigen die äußersten Lebensbedürfnisse bestreitet, ohne was er also schlechthin nicht bestehen kann; — und davon Almosen geben wäre dasselbe wie sich und den Seinigen das Nötige, um zu leben, entziehen. Das also ist nicht erlaubt; es müßte sich denn um eine für den Staat oder die Kirche sehr notwendige Person handeln, da in solchem Falle, für die Befreiung einer solchen Person, lobenswerterweise jemand sein Leben der Todesgefahr aussetzt um des Gemeinbesten willen. Dann wird etwas als notwendig bezeichnet mit Rücksicht auf das zwar nicht schlechthin zum Leben, aber dem Stande und den Umständen entsprechend Notwendige, sei es daß es sich um die eigene Person handle sei es daß um die angehörigen. Die Grenzen dieses Notwendigen sind nicht mit Zuverlässigkeit zu bestimmen. Man kann da viel hinzufügen und doch noch nicht sagen, es überschreite die gehörigen Grenzen; man kann umgekehrt viel abziehen und es bleibt doch noch genug, um standesgemäß zu leben. Von solch Notwendigem also geben, ist nicht geboten; aber geraten. Nur möchte es ungeregelt sein, so viel zu geben, daß man nicht mehr standesgemäß leben könnte; denn dazu ist jeder verpflichtet. Drei Ausnahmen freilich giebt es dabei: 1. wenn jemand seinen Stand ändert und in einen religiösen Orden tritt; denn in diesem Falle thut er ein vollkommenes Werk, wenn er um Christi willen Alles dahingiebt; — 2. wenn das, was er sich selber und einem standesgemäßen Leben abzieht, leicht ersetzt werden kann, so daß kein in höchstem Grade schwerer Nachteil entsteht; — 3. wenn es sich um einen Fall der äußersten Not handelt, sei es für eine einzelne Person sei es für den Staat. In diesen Fällen ist es lobenswert, etwas von dem, was dem standesgemäßen Leben entspricht, dahinzugehen, damit ein größeres Bedürfnis befriedigt werde.
c) Damit beantwortet.
