Dritter Artikel. Das Ärgernis ist eine besondere eigene Sünde.
a) Dies wird bestritten: I. Das Ärgernis ist etwas „minder Gerades und Rechtes“; dies ist aber jede Sünde. II. Jede besondere Sünde findet sich oft ohne die anderen. Das Ärgernis aber findet sich niemals ohne andere Sünden. III. Jede besondere Sünde wird hergestellt gemäß dem, was dem moralischen Akte den Wesenscharakter verleiht. Der Wesenscharakter des Ärgernisses aber wird hergestellt dadurch, daß man in Gegenwart anderer sündigt. Da nun dieser Umstand „vor anderen sündigen“ wohl erschwerend ist, aber kein solcher, der das Wesen einer moralischen Handlung bildet; so ist das Ärgernis keine besondere Sünde. Auf der anderen Seite wird jede besondere Sünde entgegengestellt einer eigenen besonderen Tugend. Das Ärgernis aber steht im Gegensatze zur heiligen Liebe, nach Röm. 14.: „Wenn wegen deiner Speise dein Bruder in Betrübnis kommt, so wandelst du nicht mehr nach der Liebe.“
b) Ich antworte, Ärgernis (in leidender Weise) nehmen könne wohl keine besondere Sünde sein; denn die Worte oder Beispiele des anderen können Gelegenheit geben zu allen beliebigen Sünden. Ärgernis geben, wenn es außer der Absicht des betreffenden liegt oder gegen dieselbe ist, also per accidens, kann auch keine besondere Sünde sein; denn was außer der Absicht liegt, kann nicht einer Handlung den Wesenscharakter im Bereiche des Moralischen verleihen. Beabsichtigt aber jemand, den anderen durch Worte oder Beispiele zur Sünde zu verleiten, ist also das Ärgernis gegeben per se, so ist dies eine eigene besondere Sünde; denn der Zweck verleiht der moralischen Handlung den Wesenscharakter. Wie also der Diebstahl eine besondere Sünde ist oder der Totschlag, auf Grund des besonderen dem Nächsten zugefügten Nachteils, so ist auch das Ärgernis eine besondere Sünde, weil damit ein besonderer Nachteil des Nächsten bezweckt wird; und es steht entgegen der brüderlichen Zurechtweisung, wodurch die Entfernung eines besonderen Nachteiles vom Nächsten bezweckt wird.
c) I. Jede Sünde kann dem Ärgernisse zur (materialen) Unterlage dienen; der besondere Wesenscharakter hängt ab von dem beabsichtigten Zwecke. II. „Ärgernisgeben“ kann sich finden ohne andere Sünden; wenn jemand nämlich den Nächsten ärgert durch Worte oder Thaten, die an sich keine Sünde sind. III. Nicht dieser Umstand, sondern der gewollte Zweck bildet den Wesenscharakter des Ärgernisses.
