Zweiter Artikel. Die Gabe der Weisheit ist in der Vernunft wie in ihrem Sitze.
a.) Das scheint nicht. Denn: I. Augustin sagt (de gratia N. testamenti ep. 120.): „Die Weisheit ist heilige Liebe;“ also ist sie im Willen; was auch Ekkli. 6, 23. angedeutet wird. II. Die Vernunft wird hinlänglich erleuchtet durch die Gabe des Verständnisses. Also ist da die Weisheit überflüssig. Auf der anderen Seite sagt Gregor (2. moral. 26,): „Die Weisheit steht entgegen der Thorheit,“ die in der Vernunft jedenfalls ihren Sitz hat.
b) Ich antworte, Weisheit will sagen eine gewisse Geradheit des Urteils gemäß den göttlichen Regeln. Eine solche Geradheit des Urteils kann nun eintreten: 1. auf Grund des vollkommenen Gebrauches der Vernunft; 2. auf Grund einer gewissen natürlichen Verwandtschaft mit dem, worüber zu urteilen ist. So urteilt über das, was auf die Keuschheit Bezug hat, gut und gerade: 1. wer die Moralwissenschaft vollkommen besitzt; 2. wer die Tugend der Keuschheit vollkommen hat. In der ersten Weise nun über die göttlichen Dinge ein rechtes Urteil haben, gehört der Gabe des Verständnisses an; in der zweiten Weise, also vermittelst einer gewissen natürlichen Verwandtschaft urteilen, dies ist Sache der Gabe der Weisheit; nach Dionysius (2. de div. nom.): „Hierotheus ist in göttlichen Dingen vollkommen; nicht nur weil er sie weiß, sondern weil er sie erfahren hat.“ Solche gewissermaßen natürliche Verwandtschaft aber wird begründet durch die heilige Liebe, nach 1. Kor. 6.: „Wer Gott anhängt; ist ein Geist mit Ihm.“ Die Gabe der Weisheit also hat wohl ihren Grund in der heiligen Liebe, also im Willen; ihr Wesen aber hat seinen Sitz in der Vernunft, deren Thätigkeit es ist, gut zu urteilen.
c) I. Augustinus spricht da von der Weisheit mit Bezug auf ihren Grund. Ekkli. 6. aber läßt kaum ein solches Verständnis zu. Denn wenn da gesagt wird: „Die Weisheit der Lehre ist gemäß ihrem Namen“ und man wollte das so erklären, daß sapientia von sapere (schmecken) kommt, also eine sapida scientia wäre, wonach der Wille als Sitz des Geschmackes, d. h. der Zuneigungen, der Sitz der Weisheit sein sollte, so würde dies eben nur für das Lateinische und schon nicht für das Griechische passen. Besser also ist es, da den Ausdruck „Name“ für „Ruf“, „Berühmtheit“ zu nehmen, wodurch die Weisheit empfohlen wird. II. Die Vernunft hat zwei Thätigkeiten: Auffassen und urteilen. Der ersten entspricht die Gabe des Verständnisses; der zweiten, zu urteilen nach den göttlichen Regeln, entspricht die Weisheit; und zu urteilen nach menschlichen Gründen kommt der Wissenschaft zu.
