Zweiter Artikel. Als ungerecht wird jemand nicht bezeichnet einzig darum, weil er Ungerechtes thut.
a.) Dagegen spricht: I. Die Zustände erhalten ihren Wesenscharakter gemäß den Gegenständen. Wer also Ungerechtes thut, ist schlechthin darum ungerecht. II. Nach 5 Ethic. 9. ist jene Meinung eine falsche, welche es in die Gewalt des Menschen legt, Ungerechtes ohne weiteres zu thun, und nach welcher der gerechte nicht minder Ungerechtes thun kann wie der ungerechte. Also ist es dem ungerechten als solchem eigen, Ungerechtes zu thun. III. Wer Unmäßiges begeht, ist unmäßig. Wer also Ungerechtes thut, ist ungerecht. Auf der anderen Seite „thut mancher Ungerechtes und ist trotzdem nicht ungerecht.“ (5 Ethic. 6.)
b) Ich antworte, im Gegensatze zur Gerechtigkeit sei der Gegenstand der Ungerechtigkeit etwas Ungleiches; insoweit nämlich jemandem mehr oder minder zugeteilt wird, als ihm gebührt. Zu diesem Gegenstande aber steht im entsprechenden Verhältnisse der Gegenstand des Lasters der Ungerechtigkeit, durch Vermittlung nämlich der demselben eigens entsprechenden Thätigkeit, des ungerechtfertigten Handelns. Es braucht also jemand, der Ungerechtes thut, trotzdem nicht ungerecht zu sein: entweder auf Grund des Mangels im Vergleichen der Thätigkeit selbst mit dem eigenen Gegenstande, der im Bereiche des Zweckdienlichen immer an und für sich beabsichtigt sein muß; denn das Absichtslose ist im Moralischen nebensächlich oder zufällig, so daß, wer absichtslos etwas Ungerechtes thut, aus Unkenntnis z. B., nicht als ungerecht bezeichnet werden kann und nicht ungerechtfertigt handelt; oder auf Grund des Mangels im Vergleichen oder Beziehen der eigenen Thätigkeit zum inneren Zustande, wenn nämlich jemand aus Leidenschaft, z. B. aus Begierlichkeit oder Zorn Ungerechtes thut und nicht aus freier Wahl, weil das Ungerechte als solches ihm etwa gefiele. Mit Absicht also das Ungerechte thun und aus freier Wahl, mit vollem Wissen und Willen; — das ist eigen dem Zustande der Ungerechtigkeit; Ungerechtes aber thun ohne Absicht und nicht kraft des Zustandes der Ungerechtigkeit, sondern aus irgend welcher Leidenschaft, ist nicht die Thätigkeit eines ungerechten Menschen.
c) I. Der Gegenstand an und für sich für den moralischen Akt ist das, was man beabsichtigt. II. Freilich ist es nicht für jeden beliebigen leicht, Ungerechtes aus reiner freier Wahl zu thun, weil Solches nämlich an sich gefällt und nicht auf Grund von etwas Anderem; dies aber ist die dem Zustande oder dem Laster der Ungerechtigkeit eigene Thätigkeit. III. Der Gegenstand der Mäßigkeit besteht gar nicht als solcher außen als gewissermaßen bereits fertig gestellter, sondern wird vermittelst der Beziehung zur Person selbst gebildet; und darin ist Unähnlichkeit mit der Gerechtigkeit. Wird aber die Thätigkeit der letzteren auf den inneren Zustand bezogen, so besteht da allseitige Ähnlichkeit mit der Mäßigkeit.
