Sechster Artikel. Die Gottesverehrung steht voran allen anderen moralischen Tugenden.
a) Das wird geleugnet. Denn: I. Die Vollendung der Tugenden besteht darin, daß sie die rechte Mitte erreichen. Darin ist aber die Gottesverehrung mangelhaft; denn sie verehrt Gott nicht so, wie sie müßte. II. Was von den Menschen dargeboten wird, ist um so lobenswerter, je mehr einem bedürftigen man es giebt, nach Isai. 58.: „Teile dein Brot mit dem hungrigen.“ Gott aber bedarf nichts, nach Ps. 15.: „Ich sprach zum Herrn, Du bist mein Gott; dessen, was ich besitze, bedarfst Du nicht. Also ist die Gottesverehrung weniger lobwert, wie die übrigen Tugende mit denen man den Menschen beisteht. III. Was in höherem Grade Notwendigkeit in sich einschließt, ist minder lobwert, nach 1. Kor. 9.: „Wenn ich das Evangelium verkünde, so ist das für mich kein Verdienst für die Herrlichkeit; denn Notwendigkei liegt mir ob.“ Wo aber etwas in höherem Grade geschuldet ist, da besteht größere Notwendigkeit. Da also die Ehre, welche die Gottesverehrung darbringt, im höchsten Grade Gott geschuldet ist, so verdient sie minder Lob wie die übrigen moralischen Tugenden. Auf der anderen Seite stehen Exod. 20. unter den zehn Geboten jene an erster Stelle, welche auf die Gottesverehrung sich beziehen.
b) Ich antworte, gemäß dem Grade der Zweckdienlichkeit müsse man den Grad der Tugenden bestimmen, die auf das Zweckdienliche gerichtet sind; denn je näher sie dem Zwecke stehen, desto besser sind sie. Unter den moralischen Tugenden aber, die ja alle dem Zweckdienlichen zugewendet sind, tritt die Gottesverehrung näher zu Gott, dem letzten Zwecke, heran, wie all übrigen; denn sie beschäftigt sich mit dem, was direkter und unmittelbarer einzig Gottes Ehre dient. Also hat die Gottesverehrung unter den moralisches Tugenden den ersten Rang.
c) I. Das Lob der Tugend gilt dem Wollen, nicht dem Können. Gott ehren, wie Er es verdient, können wir aber nicht. II. Gott bringen wir nichts dar, um Ihm zu nützen; sondern um seiner Ehre und unseres Nutzens willen. Was wir aber den anderen geben, soll deren Nutzen dienen; und somit ist darin das lobwerter, was mehr ihnen nützt. III. Die Notwendigkeit schließt das Verdienst aus, mehr gethan zu haben als geboten war; aber nicht das Verdienst der Tugend, wenn der freie Wille besteht.
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