Zwölfter Artikel. Das mündliche Gebet ist nützlich und notwendig.
a) Das wird geleugnet. Denn: I. Zu Gott betet man. Gott aber versteht die Sprache des Herzens. II. Durch das Gebet soll der Geist des Menschen zu Gott emporsteigen. Die Worte aber stören da ebenso wie die anderen Sinnesgegenstände. III. Im Verborgenen soll man beten, wie der Heiland Matth. 6. ermahnt. Das Wort aber macht das Gebet offenbar. Auf der anderen Seite sagt der Psalmist (Ps. 141.): „Mit meiner Stimme habe ich zu Gott geschrieen: mit meiner Stimme habe ich zum Herrn gefleht.“
b) Ich antworte, es gebe eine doppelte Art zu beten: 1. im gemeinsamen und 2. für sich allein. Das gemeinsame Gebet wird von den Dienern der Kirche Gott dargebracht in der Person und im Namen des ganzen Volkes; ein solches Gebet also muß dem ganzen Volke bekannt werden und somit muß es mündlich sein! Deshalb ist es ganz vernunftgemäß, daß derartige Gebete mit lauter Stimme vorgetragen werden, damit sie zur Kenntnis aller gelangen können. Das Gebet aber, welches jemand für sich allein Gott darbringt, sei es für sich sei es für andere, braucht nicht mündlich zu sein. Die Worte treten jedoch zu solchem Gebete hinzu aus drei Gründen: 1. damit durch die äußeren Zeichen, sei es durch Worte oder durch Anderes, der Geist des Menschen erweckt werde, um nach oben emporgetragen zu werden; deshalb schreibt Augustin an Proba: „Durch Worte und andere Zeichen wird das heilige Verlangen in uns selber erregt, daß es größer und heftiger sei;“ wird also der Geist jemandes durch solche Zeichen zerstreut oder ohne solche bereits hinlänglich zu Gott hingetragen, so sind dieselben nicht vonnöten, wie der Psalmist sagt: „Mein Herz hat nach Deinem Antlitze gesucht;“ und Anna (1. Kön. 1, 3.) „betete in ihrem Herzen;“ — 2. damit der Mensch seine Schuld Gott gegenübertrage gemäß dem Leibe und der Seele; was dem Gebete ganz besonders geziemt, da es den Charakter eines genugthuenden Werkes hat; weshalb Osee ult. gesagt wird: „Nimm hinweg alle Sünde und nimm an das Gute; und wir werden die Opfergaben unserer Lippen darbringen;“ — 3. weil aus dem Drange des Innern heraus oft Worte und andere äußere Zeichen folgen, nach Ps. 15.: „Mein Herz hat sich gefreut und meine Zunge jubelte.“
c) I. Durch das mündliche Gebet soll nichts Gott bekannt, aber der Geist zu Gott gewendet werden. II. Worte, die auf Anderes Bezug haben, hindern und zerstreuen; solche aber, welche sich auf die Andacht beziehen, wecken den Geist zu Gott hin, besonders den Geist von minder frommen Personen. III. „Es verbietet der Herr in einer Versammlung zu beten in der Absicht, damit man von der Versammlung gesehen werde. Der betende soll keine neuen Dinge thun, die auffallen; wie z. B. schreien und rufen, um von anderen gehört zu werden, oder an seine Brust schlagen in auffallender Weise, oder seine Arme ausbreiten, daß es von vielen gesehen werde,“ wie Chrysostomus sagt. (Hom. 13. in Matth. op. imp.) Jedoch ist es nach Augustin (2. de serm. Dom. 3.) „nicht unrecht, von den Menschen gesehen zu werden, wohl aber deshalb dergleichen zu thun, damit man gesehen werde.“
