Zweiter Artikel. Die Heuchelei ist eine Verstellung.
a) Das wird bestritten. Denn: I. Die Verstellung besteht im Lügen vermittelst seines Thuns. Die Heuchelei aber kann auch damit bestehen, daß jemand nach außen hin zeigt, was in seinem Innern vorgeht, wie Matth. 6. gesagt wird: „Wenn du ein Almosen giebst, verkünde es nicht wie mit der Posaune vor dir her, wie die Heuchler thun.“ II. Gregor (31. moral. 8.) schreibt: „Es giebt manche, welche das Äußere der Heiligkeit festhalten, das innere Verdienst der Vollkommenheit aber nicht zu erreichen vermögen. Diese muß man nicht zu den Heuchlern zählen; denn etwas Anderes ist es, aus Schwäche, und etwas Anderes, aus Bosheit sündigen.“ Wer aber das Äußere der Heiligkeit hat und das Innere nicht, der verstellt sich; denn das Äußere bezeichnet die innere Heiligkeit. Also ist Heuchelei nicht Verstellung. III. Die Heuchelei besteht einzig in der Absicht, nach Matth. 23.: „Alle ihre Werke thun sie, um von den Menschen gesehen zu werden.“ Und Gregor sagt (l.
c): „Die Heuchler beachten nicht, was sie thun; sondern sehen nur darauf, wie sie bei all ihrem Thun den Menschen gefallen können.“ Die Verstellung aber besteht nicht in der Absicht, sondern in der äußeren Thätigkeit. Deshalb sagt Gregor (26. moral. 23.): „Der sich verstellt zeigt Anderes und Anderes thut er; die Keuschheit erscheint bei ihm und wollüstig ist er; er ist arm nach außen hin und füllt dabei seinen Beutel.“ Also ist Verstellung niemals Heuchelei. Auf der anderen Seite fagt Isidor (10. Etymol. litt. h): „Heucheln heißt ebensoviel wie sich verstellen; der Heuchler ist im Innern böse und zeigt sich als gut.“
b) Ich antworte, im Griechischen komme der Name Heuchler von dem Gebähren jener, die in den Schauspielen ihr Antlitz verdecken und dasselbe so herrichten, daß sie eine andere Person, sei es einen Mann oder eine Frau, vorstellen und somit das Volk täuschen. (Vgl. Isidor 1. 0.) Deshalb sagt Augustin (2. de serm. Domini in monte): „Wie jene, die in den Schauspielen die Personen anderer vorstellen, das scheinen und die Rolle dessen spielen, was sie nicht sind (denn wer den Agamemnon spielt, ist nicht wahrhaft Agamemnon), so ist in der Kirche, wer als einer angesehen werden will, der er nicht ist oder als etwas, was er nicht ist, ein Heuchler; denn er verstellt sich als ob er ein Gerechter wäre und ist es nicht.“ Die Heuchelei ist also eine Verstellung; aber sie ist nicht jede Verstellung, sondern nur eine solche, welche die Person eines anderen vorstellen will; wie der Sünder z. B. die Person des Gerechten vorstellt.
c) I. Das äußerliche Werk bezeichnet von Natur aus die Absicht. Wenn also jemand durch die guten Werke, welche infolge ihrer „Art“ zum Dienste Gottes gehören, nicht Gott zu gefallen sucht, sondern den Menschen, so zeigt er nach außen eine gute Absicht, die er innen nicht hat; d. h. er verstellt sich. Deshalb sagt Gregor (I. c.): „Die Heuchler dienen in den Dingen, die Gott angehen, der Meinung der Welt; denn durch das Heilige selbst, was sie nach dem äußeren Scheine wirken, suchen sie nicht die Bekehrung der Menschen, sondern wollen das Lob der Bewunderer hören.“ Sie stellen also, was das Äußere betrifft, lügenhaft eine rechte Absicht hin, welche sie nicht haben; obgleich sie nicht ein gutes Werk sich verstellend nach außen wirken, was sie nicht thatsächlich wirkten. II. Das Äußere der Heiligkeit, also z. B. das Ordens- oder Priestergewand, bezeichnet den Stand, wodurch jemand zu Werken der Vollkommenheit verpflichtet wird. Wer also das Äußere der Heiligkeit trägt und die Absicht hat, den Weg der Vollkommenheit zu wandeln, ist kein Heuchen, wenn er aus Schwäche einmal fällt; denn er ist nicht gehalten, seine Sünde zu veröffentlichen, indem er das Äußere der Heiligkeit von sich entfernt. Würde einer aber deshalb z. B. das Ordenskleid nehmen, damit er sich als gerecht zeigte, so wäre dies Verstellung und Heuchelei. III. In der Verstellung wie in der Lüge ist 1. das Zeichen und 2. das dadurch Bezeichnete. Die schlechte Absicht also in der Heuchelei wird wie das Bezeichnete erachtet, was dem Zeichen nicht entspricht; nach außen hin merkbare Thaten aber oder Worte oder was immer sinnlich wahrnehmbar ist, wird bei jeder Verstellung und bei jeder Lüge als Zeichen betrachtet.
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