Sechster Artikel. Die Aufführung der anderen sechs Gebote ist zulässig.
a) Dem wird widersprochen. Denn: I. Es genügt nicht, daß der eine Mensch dem anderen nur keinen Nachteil zufügt; er soll ihm auch Gutes thun und zumal das ihm Geschuldete leisten, nach Röm. 13.: „Leistet allen das, was ihr ihnen schuldet.“ Nur aber das Zufügen von Schaden berücksichtigen die sechs letzten Gebote. Also passenderweise sind sie nicht geordnet. II. Mord, Ehebruch, Diebstahl, falsches Zeugnis werden da verboten. Aber noch in vielem Anderen kann man dem Mitmenschen schaden, wie Kap. 72 et sq. gesagt worden. Also fehlt in diesen Geboten Manches. III. Es giebt ein Begehren, was Willensakt ist, wie Sap. 6. es heißt: „Das Begehren nach Weisheit führt zu beständiger Herrschaft; — und ferner giebt es ein Begehren, was sinnliche Thätigkeit ist, wie bei Jakob 1.: „Woher Streit und Kampf in euch? Kommt dies nicht etwa von den Begierden, die in eueren Gliedern kämpfen?“ Die Begierde der Sinnlichkeit aber wird von den zehn Geboten nicht verboten; denn in diesem Falle wären die ersten Regungen derselben Todsünden, als nämlich gegen die zehn Gebote gerichtet. Auch das Begehren des Willens ist nicht verboten; im Gegenteil wird solches in jedem Gebote eingeschlossen. Also zulässigerweise steht unter den zehn Geboten Manches, was die Begierden verbietet. IV. Der Totschlag ist eine schwerere Sünde wie Ehebruch und Diebstahl. Es giebt aber unter diesen Geboten keines, was die Begierde, jemanden zu morden, unterdrückt. Also unnützerweise wird das Begehren nach Diebstahl und nach Ehebruch verboten. Auf der anderen Seite steht die Autorität der heiligen Schrift.
b) Ich antworte; wie infolge der Gerechtigkeit geleistet wird, was man einzelnen bestimmten Personen schuldet auf Grund besonderer Verpflichtung, so auch das, was man gemeinhin allen schuldet. Also nach den drei ersten Geboten, die sich auf die Religion beziehen, kraft deren Gott gegenüber wir das Ihm Geschuldete leisten; und nach dem vierten, das sich auf die Hingebung oder Pietät bezieht und unsere Verpflichtung gegen die Eltern regelt, in welcher die auf besonderen Gründen beruhenden Verpflichtungen gegen einzelne bestimmte Personen eingeschlossen sind; — mußten einige Gebote kommen, welche zur eigentlich so genannten Gerechtigkeit gehören und wonach man den Verpflichtungen, die man unterschiedslos gegem alle Menschen hat, gerecht wird. Dies sind die letzten sechs Gebote.
c) I. Dazu ist der Mensch gegen alle Menschen verpflichtet, daß er keinem einen Nachteil zufügt. Demgemäß also waren unter die zehn Gebote, welche allgemein geltende Grundregeln sein sollen, die negativen aufzunehmen. Was positiv dem Nächsten darzubieten ist, das ist verschieden für jeden Menschen je nach den verschiedenen Personen; und sonach wurden darüber keine positiven Gebote in den Dekalog aufgenommen. II. Aller andere Nachteil, den man dem Nächsten zufügt, kann auf diese sechs Gebote zurückgeführt werden als auf die allgemeineren und hauptsächlicheren Schäden. Denn jeder Nachteil, welcher sich auf die Person des Nächsten beziehen kann, ist enthalten im Totschlage. Der Nachteil aber, der sich auf den Nächsten bezieht, weil derselbe einer diesem eng verbundenen Person zugefügt wird, ist enthalten im Ehebruche. Was zum Schaden in den besessenen Dingen gehört, schließt das Verbot des Diebstahles ein. Und was mit der Zunge gegen den Nächsten gesündigt wird, wie die Verkleinerungen, Lästerungen etc., wird verboten durch das Verbot des falschen Zeugnisses, welches direkter der Gerechtigkeit gegenübersteht. III. Nicht die ersten Regungen der Sinnlichkeit werden verboten, welche innerhalb der Grenzen derselben verbleiben; sondern die Zustimmung des Willens zum Werke oder zum Ergötzen ist Gegenstand des betreffende Gebotes. IV. Der Mord an sich ist nicht begehrenswert; er ist vielmehr Gegenstand des Schreckens, denn er trägt nicht den Charakter irgend eines Gutes an sich. Der Ehebruch aber hat den Charakter des Ergötzlichen an sich und der Diebstahl den Charakter eines nützlichen Gutes. Das Gute hat seinem Wesen nach den Charakter des Begehrenswerten. Also war kraft besonderer Gebote das Begehren nach Ehebruch und Diebstahl zu verbieten nicht aber das Begehren nach Mord und Totschlag.
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