Fünfter Artikel. Die Zulässigkeit im Aufstellen des vierten Gebotes.
a) Das vierte Gebot ist nicht in zulässiger Weise gegeben. Denn: I. Dieses Gebot gehört zur Tugend der Hingebung oder Pietät. Wie aber die Hingebung ein Teil der Gerechtigkeit ist, so auch die Hochachtung, die Dankbarkeit etc. über diese anderen Tugenden aber wird kein Gebot gegeben. Also durfte dies auch nicht rücksichtlich der Pietät geschehen. II. Die Hingebung erweist Ehre und Dienst nicht nur den Eltern, sondern auch den blutsverwandten, dem Vaterlande etc. Also mußte im vierten Gebote nicht der Eltern allein Erwähnung geschehen. III. Nicht nur Ehre gebührt den Eltern, sondern auch Pflege und der Lebensunterhalt. IV. Wer die Eltern ehrt, stirbt manchmal jung; wer sie nicht ehrt, wirt oft alt. Also ist der Zufatz unzulässig: „Damit du lange lebest auf Erden.“ Auf der anderen Seite steht die Schrift.
b) Ich antworte, unter den Mitmenschen stehen an erster Stelle Eltern; und sind wir ihnen am meisten verpflichtet. Also gebührendermaßen kommt nach den drei Geboten, welche auf die Liebe Gottes sich richten, als erstes unter den Geboten, deren Gegenstand die Nächstenliebe ist, das Gebot, die Eltern zu ehren; denn sie sind ein besonderes Princip für unser Sein wie Gott das allgemeine Princip alles Seins ist.
c) I. Die zehn Gebote sind allumfassend. Gemeinhin aber hat dies auf alle Menschen Beziehung, daß sie die Eltern ehren; während die anderer Teile der Gerechtigkeit beschränkte, besondere Verpflichtungen berücksichtigen. II. Zuerst sind wir den Eltern verpflichtet; denn erst auf Grund unserer Geburt von den Eltern gehören zu uns blutsverwandte und Heimat. Die zehn Gebote aber sind die ersten moralischen Grundvorschriften des Gesetzes. Wie nun im Hauptsächlichen das Untergeordnete oder Nebensächliche angeschlossen ist, so umfaßt das vierte Gebot auch die Pflichten gegen das Vaterland, die blutsverwandten etc. III. Die Ehre gebührt den Eltern an sich; Pflege, Unterhalt erst auf Grund des äußerlichen Umstandes, daß sie danach Bedürfnis haben. Die zehn Gebote aber sind erste und hauptsächliche, allumfassende Grundwahrheiten und sonach schreiben sie im vierten nur das erste den Eltern Gebührende vor; worin alles Andere eingeschlossen ist. IV. Das lange Leben wird nicht nur für die Ewigkeit versprochen, sondern auch für die Zeit, nach 1. Tim. 4.: „Die Pietät oder Hingebung ist zu Allem nützlich; ihr ist das Versprechen des Lebens geworden für dieses gegenwärtige Leben und auch für das zukünftige.“ Und das mit Grund. Denn das körperliche Leben haben die Kinder nach Gott von den Eltern; und somit verdient jener, der, gleichsam dankbar für diese Wohlthat, die Eltern ehrt, auch die Verlängerung dieses körperlichen Lebens. Wer aber seine Eltern nicht ehrt, verdient wie ein undankbarer dieser Wohlthat beraubt zu werden; denn „worin einer sündigt, darin wird er gestraft.“ Weil aber diese zeitlichen Güter oder Übel weder Verdienste noch Mißverdienste sind, außer insoweit sie zur zukünftigen Belohnung Beziehung haben; so geschieht es nach dem verborgenen Ratschlüsse Gottes bisweilen, der in höchstem Grade sich nach der zukünftigen Belohnung richtet, daß gute Kinder jung sterben, schlechte lange leben.
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