Sechster Artikel. Ertragen, Aushalten ist die Hauptthätigkeit der Stärke.
a) Dies scheint nicht. Denn: I. Die Tugend geht auf das Schwierige und Gute. (2 Ethic. 3.) Schwerer aber ist es: angreifen wie ertragen. II. Größere Macht verrät es, auf Anderes einzuwirken, wie unter Einflüsse von Anderem nicht sich ändern zu lassen. Angreifen aber heißt ebensoviel wie auf Anderes einwirken; ertragen, wie unverrückbar bleiben. Also muß der starke vielmehr angreifen wie ertragen. III. Der da aushält und erträgt hat nur dies, daß er nicht fürchtet, wer aber angreift, thut noch dazu das, was der Furcht geradezu entgegesetzt ist. Da also die Stärke am meisten von der Furcht abzieht, so kommt es ihr mehr zu, anzugreifen wie bloß auszuhalten. Auf der anderen Seite „zeigt mancher im Ertragen des Traurigen die größte Stärke.“ (3 Ethic. 9.)
b) Ich antworte, Aristoteles sage (l. c.): „Die Stärke beschäftigt sich in höherem Maße damit, die Furcht zu unterdrücken wie die Kühnheit zu mäßigen.“ Denn das Erstere ist schwerer; die Gefahr nämlich selber, als Gegenstand der Furcht und der Kühnheit, trägt dazu bei, die Kühnheit zu mäßigen, während sie die Furcht vermehrt. Angreifen aber ist die Thätigkeit der Stärke, insoweit sie die Kühnheit mäßigt; Ertragen, insoweit sie die Furcht unterdrückt. Also der hauptsächliche Akt der Tugend der Stärke ist das Ertragen oder Aushalten; und nicht das Angreifen.
c) I. Ertragen ist schwerer wie angreifen aus drei Gründen: 1. weil wer erträgt, von einem stärkeren bekämpft wird; denn wer angreift geht als der stärkere darauf los; mit einem stärkeren kämpfen aber ist schwerer wie mit einem schwächeren kämpfen; — 2. weil, wer erträgt, bereits die drohende Gefahr fühlt; der da angreift hält sie für eine noch zukünftige; schwerer aber ist es, vom gegenwärtigen Feinde sich nicht beeinflussen zu lassen als von einem noch zukünftigen; — 3. weil das Ertragen eine lange Zeit besagt, das Angreifen aber kann aus plötzlichem Antriebe geschehen; schwerer aber ist es, lange unbeeinflußt fest zu bleiben, wie nur kurze Zeit. Deshalb heißt es (3 Ethic. 8.): „Manche fliegen den Gefahren voran und wenn letztere herankommen, weichen sie zurück; die starken aber thun umgekehrt. II. Der geduldig ausharrende leidet dem Körper nach; besitzt jedoch eine hohe Seelenstärke, die fest dem Guten anhängt. Die Tugend haftet aber der Seele, nicht dem Leibe an. III. Wer aushält hat keine Furcht, obgleich die Ursache der Furcht bereits da ist; der da angreift, für den ist die Ursache der Furcht noch fern.
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