Elfter Artikel. Die Stärke ist eine Kardinaltugend.
a) Dies scheint nicht. Denn: I. Der Zorn ist mit der Stärke verwandt; ist aber keine Hauptleidenschaft und ebensowenig die Kühnheit. Also. II. Die Tugend hat hauptsächlich Beziehung zum Guten. Die Stärke aber hat keine direkte Beziehung zum Guten, sondern vielmehr zum Übel: zu Gefahren und Arbeiten. Also. III. Die Kardinaltugend beschäftigt sich mit den Hauptverhältnissen menschlichen Lebens, wie etwa die Thüre sich in den Angeln bewegt und so kraft dieser ihren Bestand hat. Todesgefahren aber, wie sie doch die Stärke berücksichtigt, sind selten im menschlichen Leben. Also ist die Stärke keine Kardinaltugend. Auf der anderen Seite zählen Gregor (22. moral. 1.), Ambrosius zu Luk. 6. und Augustin (de morib. EccI. 15.) die Stärke zu den Kardinaltugenden.
b) Ich antworte, Kardinal- oder Haupttugenden werden jene Tugenden genannt, welchen in erster Linie und vorzugsweise das zukommt, was gemeinhin den Tugenden zueignet. Unter den übrigen Haupterfordernissen nun dazu, daß etwas Tugend sei, ist eine die, daß man „mit Festigkeit wirke.“ (2 Ethic. 4.) Das Lob der Festigkeit aber eignet sich in hervorragender Weise die Stärke zu; denn um so mehr wird jemand gelobt, daß er fest gestanden habe, je stärker der Antrieb war um zu fallen oder zurückzuweichen. Und da den Menschen das ergötzende Gut und das betrübende Übel am meisten antreibt, vom Vernunftgemäßen abzugehen; da ferner mehr dazu antreibt der Schmerz des Leibes wie das Ergötzen, „denn es giebt niemanden, der nicht in höherem Grade den Schmerz flieht wie das Vergnügen begehrt, wie wir sehen, daß selbst die wildesten Tiere durch den Schmerz von den höchsten Lüsten abgeschreckt werden“ (Aug. 83. Qq. 36.); und da endlich unter den Seelen- und Körperschmerzen am meisten gefürchtet werden jene, die zum Tode führen; — so ist die Stärke, welche gegen Todesgefahren festigt, eine Haupt- oder Kardinaltugend.
c) I. Kühnheit und Zorn helfen in nichts zur Hauptthätigkeit der Stärke: dem Ertragen. Denn durch diese Thätigkeit zügelt der starke die Furcht, die da eine Hauptleidenschaft ist. II. Die Tugend hat Beziehung zum vernunftgemäßen Guten, was man behüten muß gegen die antreibende Gewalt der Übel. Die Stärke aber will widerstehen den körperlichen Übeln, wie dem ihr Entgegengesetzten, das vernunftgemäße Gute will sie behüten, wie den Zweck. III. Wirkliche Todesgefahren drohen wohl selten. Die Gelegenheiten aber zu diesen Gefahren kommen häufig vor; wenn nämlich dem Menschen tödliche Gegner erstehen wegen der Gerechtigkeit, welcher er folgt, und wegen manch' anderem Guten, was er thut.
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