Zehnter Artikel. Dem starken dient zum Gebrauche in seiner Thätigkeit der Zorn.
a) Dies wird bestritten. Denn: I. Der Mensch kann sich nicht nach Belieben erzürnen und dann wieder den Zorn ablegen. Also kann der Zorn nicht einer Tugend als Werkzeeug dienen, da die Tugend nach freier Wahl thätig ist. II. Die Leidenschaft im sinnlichen Teile ist schwächer wie die Vernunft. Denn die Vernunft genügt für sich allein, um das Werk der Stärke auszuführen, der Zorn aber nicht; weshalb Seneca fagt (1. de ira 16.): „Nicht nur um vorzusorgen, sondern auch zur Ausführung ist die Vernunft für sich allein genügend. Was ist thörichter als vom Zorne Schutz zu verlangen; etwas Dauerhaftes zu fordern von etwas Schwankendem, etwas Gesundes vom Schwächlichen!“ Also der Zorn kann nicht der Tugend der Stärke beistehen. III. Nicht allein auf Grund des Zornes, sondern auch wegen der Begierde und der Trauer werden die Werke der Stärke mit mehr Kraft ausgeführt. „Der Schmerz reizt die wilden Tiere, den Gefahren entgegenzutreten“ (3 Ethic. 8.); und ebenso thun die Ehebrecher viel Kühnes wegen der Begierde. Wie also die Stärke nicht sich der Begierde oder der Trauer als eines Beistandes bedient, so darf sie auch nicht des Zornes sich in dieser Weise bedienen. Auf der anderen Seite sagt Aristoteles (l. c.): „Der Zorn hilft den starken.“
b) Ich antworte; die Stoiker haben den Zorn wie alle anderen Leidenschaften von der Seele des weisen ausgeschlossen; Aristoteles aber mit den Peripatetikern schrieben die Leidenschaften auch der Seele des weisen zu, jedoch insoweit sie durch die Vernunft ihr rechtes Maß erhalten. Vielleicht war nun da der Unterschied nur in den Ausdrücken. Denn die Peripatetiker nannten Leidenschaften alle Eindrücke und Thätigkeiten im sinnlichen Teile ohne Unterschied. Und weil seitens der Vernunft das sinnliche Begehren in Thätigkeit gesetzt wird zu dem Zwecke, damit es beitrage, um bereitwilliger, kräftiger zu handeln; deshalb nahmen sie an, der Zorn und die anderen Leidenschaften seien von den tugendhaften zu benutzen gemäß der Anordnung der Vernunft. Die Stoiker aber nannten Leidenschaften gewisse maßlose Hinneigungen des sinnlichen Teiles; weshalb sie dieselben als Krankheiten, Schwächen bezeichneten und meinten, der tugendhafte dürfe in keiner Weise sie gebrauchen. Den Zorn also gebraucht der starke gemäß der Anweisung der Vernunft; nicht aber einen maßlosen Zorn.
c) I. Der von der Vernunft gemessene Zorn ist selbstverständlich dem freien Willen unterworfen. II. Nicht behufs des Beistandes zu ihrer eigenen Thätigkeit gebraucht die Vernunft den Zorn; sondern als Werkzeug für die Ausführung des Gewollten, z. B. vermittelst der Glieder des Körpers. Das Werkzeug kann aber ganz wohl unvollkommener sein wie die Hauptursache; so ist der Hammer unvollkommener wie der Schmied. Übrigens war Seneca Stoiker und seine Worte sind direkt gegen Aristoteles. III. Zur Thätigkeit des Ertragens gebraucht die Vernunft den Zorn nicht; dazu genügt sie allein. Aber zur Thätigkeit des Angreifens gebraucht sie den Zorn, dem es eigen ist, gegen das Betrübende anzugehen und der so seiner Natur nach der Stärke entspricht. Gemäß ihrem Wesenscharakter unterliegt aber vielmehr die Trauer; und nur auf Grund äußerer Umstände hilft sie beim Angreifen; — insoweit sie nämlich den Zorn verursacht (I., II. Kap. 47, Art. 3) oder insoweit sich jemand der Gefahr aussetzt, um der Trauer zu entgehen. Ähnlich richtet sich die Begierde ihrem Wesen nach auf das ergötzende Gut, was an sich der Stärke widerstreitet; und nur soweit jemand lieber Gefahren sich aussetzen will als des begehrten Gutes entbehren, hilft sie beim Angreifen. (Vgl. 3 Ethic. 8.)
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