Zwölfter Artikel. Die Stärke ist nicht schlechthin die hervorragendste Tugend.
a) Dagegen spricht sich aus: I. Ambrosius (1. de offic. 35.): „Die Stärke ist wie erhabener als die übrigen Tugenden.“ II. Die Tugend hat zum Gegenstande das Schwierige und Gute. Die Stärke aber richtet sich auf das Schwierigste. III. Die Gerechtigkeit und die übrigen moralischen Tugenden regeln und ordnen die äußeren Dinge, die den Menschen umgeben. Die Stärke aber will die Person selber des Menschen schützen gegen Todesgefahren. Also ist sie würdevoller wie die übrigen. IV. Auf der anderen Seite sagt Cicero (1. de coelo.): „In der Gerechtigkeit strahlt der höchste Tugendglanz; denn danach werden Menschen als gut bezeichnet.“ V. Aristoteles schreibt (1 Rhet. 9.): „Die größten Tugenden sind notwendigerweise jene, die den anderen Menschen am nützlichsten sind.“ Das ist aber die Freigebigkeit. Also ist die Stärke nicht die hervorragendste Tugend.
b) Ich antworte, um so weit sei (wie bereits oben gesagt) eine Tugend größer und hervorragender als sie besser ist. Des Menschen Gut nun ist das vernunftgemäße Gute. Dieses nun wohnt dem Wesen nach der Klugheit inne, welche die Vollendung der Vernunft ist. Die Gerechtigkeit thut das Gute, insoweit ihr es zueignet, die Ordnung der Vernunft herzustellen in allen menschlichen Angelegenheiten. Die anderen Tugenden behüten das vernunftgemäße Gute: die Mäßigkeit gegenüber den Ergötzlichkeiten, die sie mäßigt, damit sie nicht den Menschen der Stimme der Vernunft entfremden; — die Stärke, insoweit sie gegen das Übel streitet, Und im Bereiche dieses Behütens des Guten, was der Vernunft entspricht, hält die Stärke die erste Stelle fest. Denn die Furcht vor dem Tode ist am meisten wirksam, um den Menschen von der Vernunft zu entfernen. Nach der Stärke kommt die Mäßigkeit. Was nun seinem Wesen nach etwas ist, das kommt an erster Stelle. Dann kommt, was demangemessen wirkt und hervorbringt. Und endlich, was das Gewirkte bewahrt. Danach also steht unter den Kardinaltugenden an erster Stelle: die Klugeit; an zweiter die Gerechtigkeit; an dritter die Stärke; an vierter die Mäßigkeit; und danach regeln sich die übrigen Tugenden.
c) I. Ambrosius zieht die Stärke den übrigen Tugenden vor gemäß einem gewissen allgemeinen Nutzen, den sie bringt; insofern sie im Kriege, Staatsgeschäften, in der Familie, überall somit nützlich ist. II. Das Wesen der Tugend besteht vorwiegend im Guten; nicht in ebenso hohem Grade im Schwierigen. Also nach dem Grade des Guten ist Abstufung in den Tugenden zu bestimmen. III. Der Mensch setzt seine Person der Gefahr aus, nur um die Gerechtigkeit zu behüten. Also hängt das Lob der Stärke von der Ge- echtigkeit ab. Deshalb sagt Ambrosius (1. äs ol6o. 35.): „Die Stärke ohne Gerechtigkeit ist Ruchlosigkeit; denn je stärker jemand ist, desto mehr “ er dann geeignet, den schwächeren zu unterdrücken.“ IV. Zugestanden. V. Die Freigebigkeit ist in einzelnen besonderen Verhältnissen lich. Die Stärke hat einen allgemeinen Nutzen, um die Ordnung ber°Gerechtigkeit zu behüten. Deshalb sagt Aristoteles (1 kbst. 9.): „Die gerechten und starken werden am meisten geliebt, weil sie höchst nützlich sind im Frieden und im Kriege.“
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