Fünfter Artikel. Die Hochherzigkeit ist ein Teil der Stärke.
a) Dies scheint nicht. Denn: I. Die Hochherzigkeit scheint genau dasselbe zu sein wie die Stärke. Seneca nämlich sagt (de 4. virtut.): „Die Hochherzigkeit, welche man auch als Stärke bezeichnet;“ und Cicero (1. de offic.): „Starke Männer, die wir zugleich als hochherzige bezeichnen, Freunde der Wahrheit.“ Also ist die Hochherzigkeit kein Teil der Stärke. II. 4 Ethic. 3. heißt es: „Der hochherzige liebt nicht die Gefahren.“ Der starke aber setzt sich Gefahren aus. Also ist die Hochherzigkeit kein Teil der Stärke. III. Die Hochherzigkeit berücksichtigt Großes in den zu erhoffenden Gütern, die Stärke in den zu fürchtenden oder kühn zu wagenden Übeln. Das Gute aber steht an bevorzugterer Stelle wie das Übel. Also ist die Haupttugend die Hochherzigkeit und nicht die Stärke. Auf der anderen Seite stellt Macrobius und Andronicus die Hochherzigkeit als einen Teil der Stärke auf.
b) Ich antworte, Haupttugend im Bereiche einer gewissen hauptsächlichen Thätigkeit sei jene, welche an erster Stelle dieser Art von Thätigkeit Maß und Richtschnur bestimmt. Nun ist eine der hauptsächlichsten, allgemeinen Bedingungen für jede tugendhafte Thätigkeit „fest zu sein“ (2 Ethic. 4.); und vorzugsweise wird Festigkeit gelobt in den Tugenden, deren Gegenstand etwas Schwieriges ist, weil bei ihnen es schwer ist Festigkeit zu wahren. Je schwerer also es erscheint, in etwas schwer Erreichbarem Festigkeit zu bewahren; desto hauptsächlicher ist die Tugend, welche darin der Seele Festigkeit verleiht. Nun ist es schwerer, fest zu bleiben gegenüber den Todesgefahren, wo die Stärke Festigkeit dem Geiste verleiht; wie in der Hoffnung oder im Besitze der größten Vorzüge oder Güter, wo die Hochherzigkeit den Geist festmacht; weil, wie der Mensch am meisten das Leben liebt, er auch am meisten Todesgefahren entflieht. Also kommt die Hochherzigkeit darin mit der Tugend der Stärke überein, daß sie den Geist festigt mit Rücksicht auf etwas schwer Erreichbares; sie erreicht aber die Erhabenheit der Tugend der Stärke nicht, insoweit sie in etwas Leichterem der Seele Festigkeit verleiht. Also ist die Hochherzigkeit ein Teil der Stärke, wie die untergeordnete Tugend ein Teil der Haupttugend ist.
c) I. „Das Übel entbehren wird als etwas Gutes betrachtet,“ heißt es 5 Ethic. 1. Also nicht besiegt zu werden z. B. von den Todesgefahren, wird betrachtet als die Erreichung eines großen Gutes. Das Erste ist Gegenstand der Stärke, das Zweite Gegenstand der Hochherzigkeit. Und danach stehen Hochherzigkeit und Stärke auf der gleichen Stufe. Weil aber von einem anderen Gesichtspunkte die Stärke ausgeht und von einem anderen die Hochherzigkeit, so wird von Aristoteles die eine dieser Tugenden von der anderen unterschieden. II. „Gefahren lieben“ wird von jenem ausgesagt, der da in der Meinung „Vielerlei“ sei dasselbe wie „Großes“, sich für viele Dinge unterschiedslos der Gefahr aussetzt. Für das wahrhaft Große setzt sich auch der hochherzige bereitwillig der Gefahr aus; denn er leistet Großes in der Stärke, wie in den anderen Tugenden. Deshalb sagt da Aristoteles „der hochherzige setze sich nicht für Kleinigkeiten der Gefahr aus (μικροκίνδυνος), sondern für ein Großes (μεγαλοκίνδυνος);“ und Seneca (l. c.): „Hochherzig bist du, wenn du nicht vermessen nach Gefahren suchst und sie nicht furchtsam fliehst. Nur das Bewußtsein eines tadelnswerten Lebens nimmt der Seele die Furcht.“ III. Man geht gegen das Übel an um der Bewahrung des Guten willen. Das Gute aber ist an sich erstrebenswert. Also mehr widersetzt sich der Festigkeit des Geistes das Schwierige im Übel wie das Hervorragende im Guten. Und so ist die Stärke mit Bezug darauf eine höhere Tugend wie die Hochherzigkeit. Es mag also schlechthin das Gute hauptsächlicher sein wie das Böse. Hier in diesem einzelnen Falle aber ist das Böse hauptsächlicher wie das Gute; nämlich mit Beziehung auf die Festigkeit.
