Vierter Artikel. Die Hochherzigkeit ist eine eigene besondere Tugend.
a) Dies wird bestritten. Denn: I. Die Hochherzigkeit wirkt in allen Tugenden, nach 4 Ethic. 3.: „Der hochherzige wirkt in jeder Tugend das Hervorragende.“ Das kann aber von keiner besonderen Tugend gesagt werden. II. Dem hochherzigen werden die Thätigkeiten der verschiedensten Tugenden zugeschrieben, was bei keiner besonderen, von den anderen unterschiedenen Tugend eintritt. Denn 4 Ethic. 3. wird gesagt: „Der hochherzige flieht nicht vor dem, der ihn zu etwas überreden will (ein Akt der Klugheit), er thut nichts Ungerechtes (ein Akt der Gerechtigkeit), er ist zum Wohlthun bereit (ein Akt der Liebe), er leistet schnell Dienste (ein Akt der Freigebigkeit), er ist wahrhaft (ein Akt der Wahrheit), er klagt nicht (ein Akt der Geduld).“ Also ist die Hochherzigkeit keine besondere Tugend. III. Jede Tugend ist ein gewisser Schmuck der Seele, nach Isai. 61,10.: „Es bekleidete mich der Herr mit den Gewändern des Heiles… wie eine verlobte, die mit Edelgestein geschmückt ist.“ Die Hochherzigkeit aber ist der Schmuck aller Tugenden, nach 4 Ethic. 3. Auf der anderen Seite steht die Autorität des Aristoteles. (2 Ethic. 7.)
b) Ich antworte, jede besondere Tugend gebe das Maß und die Richtschnur an in einem besonderen Bereiche von Gegenständen. Die Ehren aber, mit denen die Hochherzigkeit sich beschäftigt, bilden einen besonderen Bereich von Gegenständen und ein besonderes Gut. Also ist an sich betrachtet die Hochherzigkeit eine besondere Tugend. Weil aber die Ehre der Lohn für alle Tugenden ist, so berücksichtigt auf Grund ihres Gegenstandes die Hochherzigkeit alle Tugenden.
c) I. Die Hochherzigkeit richtet sich auf große Ehren. Wie aber Ehre gebührt der Tugend, so gebührt große Ehre einem hohen Tugendwerke. Und sonach will der hochherzige Großes thun in jeder Tugend, insoweit er nach dem strebt, was große Ehre verdient. II. Die Hochherzigkeit erstrebt ihrem Wesen nach alles Hervorragende und flieht jeglichen Mangel. Daß aber jemand wohlthue, mitteile, reichlich vergelte ist; gewissermaßen etwas Hervorragendes. Also dazu zeigt sich der hochherzige bereit; nicht insofern diese Dinge den Akt anderer Tugenden einschließen, sondern insoweit sie den Charakter des Hervorragenden haben. Ein Mangel aber ist es, insoweit äußere Güter oder Übel zu beachten, daß man um ihretwillen von der Gerechtigkeit sich entfernt. Ein Mangel wiederum ist alles Verbergen der Wahrheit, denn da ist Furcht der Grund. Ein Mangel ist die Gewohnheit zu klagen, denn infolgedessen scheint die Seele äußerem Übel zu unterliegen. Dies und Ähnliches vermeidet der hochherzige; aber immer unter dem ihm eigenen besonderen Gesichtspunkte, daß es dem Charakter des Hervorragenden widerstreite, nach dem er strebt. III. Jede Tugend hat ihrem Wesenscharakter nach einen ihr eigenen Schmuck. Dazu kommt dann der Schmuck, welcher aus der Größe des Tugendwerkes herrührt; und dieser ist der Hochherzigkeit gedankt, welche alle Tugenden zu größeren macht. (4 Ethic. 3.)
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