Dritter Artikel. Der Mensch schämt sich mehr vor Personen, die ihm mehr bekannt oder verwandt sind.
a) Dem widerspricht Folgendes: I. „Die Menschen erröten mehr vor jenen Personen, von denen sie bewundert sein wollen.“ (2 Rhet. 6.) Bewundert aber will der Mensch sein von den besseren, höherstehenden Menschen; wenn sie auch nicht ihm bekannt oder verwandt sind II. Näher zu stehen oder bekannter zu sein scheinen dem Menschen jene Personen, die Ähnliches thun. Der Mensch aber errötet wegen seiner Sünde nicht vor denen, die wie er weiß ähnlichen Sünden unterliegen; denn „was er selbst thut, verbietet er nicht den anderen“ (I. c.). Also schämt er sich nicht in höherem Grade vor den ihm mehr bekannten Personen. III. „Mehr schämt sich der Mensch vor denen, die was sie wissen überallhin verbreiten, wie z. B. vor den Spöttern und Aufschneidern“ (I. c.); dies sind aber nicht bekannte oder verwandte Personen, die doch Fehlerhaftes ihrer eigenen Verwandten nicht weiter zu verbreiten pflegen. IV. „Die Menschen schämen sich am meisten vor jenen, unter welchen sie fehlerfrei gelebt haben, und vor denen, von welchen sie an erster Stelle etwas verlangen und die sie also nun zuerst zu Freunden haben wollen“ (I.
c). Das sind aber nicht Bekannte und Verwandte. Auf der anderen Seite sagt Aristoteles (I. c.): „Vor denen, mit welchen sie immer zusammen sind, schämen sich die Menschen am meisten.“
b) Ich antworte, da der Tadel entgegenstehe der Ehre, so schließe auch, sowie die Ehre ein Zeugnis für den Vorrang jemandes besagt und zumal für seinen Vorrang in der Tugend, so die Schande, welche Gegenstand der Furcht in der Verschämtheit ist, in sich ein Zeugnis für den Mangel in jemandem und zumal für eine Schuld. Und es schämt sich sonach im selben Maße mehr jemand vor einem solchen Zeugnisse, für je größer dessen Gewicht erachtet wird. Nun kann ein Zeugnis für gewichtvoller erachtet werden entweder 1. wegen der zuverlässigen Wahrheit in selbigem oder 2. wegen der Wirkung, die ihm entspricht. Die zuverlässige Wahrheit in einem solchen Zeugnisse beruht:
a) auf der anerkannt scharfen Urteilskraft, wie das bei den Weisen und Tugendhaften eintritt, von denen der Mensch einerseits mehr geehrt zu werden wünscht und vor denen er sich auch in höherem Grade schämt, so daß vor Kindern und Tieren sich niemand schämt, weil sie keine Urteilskraft haben; —
b) auf Grund der eingehenden Kenntnis dessen, was bezeugt wird, denn jeder urteilt am besten über das, was er weiß; und danach schämen wir uns mehr vor uns nahe stehenden Personen, die unser Thun mehr kennen, und vor fremden und unbekannten schämen wir uns in keiner Weise. Die Wirkung 2. macht ein Zeugnis mehr gewichtvoll, insofern daraus ein größerer Schaden entsteht; und deshalb wünschen die Menschen mehr geehrt zu werden von denen, die ihnen helfen, und schämen sich mehr vor denen, die ihnen schaden können. Und daher kommt es ebenfalls, daß wir uns mehr schämen vor Personen, die uns nahestehen, mit welchen wir somit verkehren; weil uns nämlich eben deshalb, mit Rücksicht auf den Verkehr, vonihnen beständiger Nachteil droht, während das, was von fremden herrührt, rasch vorübergeht.
c) I. Der Grund, weshalb wir vor besseren Personen uns mehr schämen, ist ein ähnlicher. Denn ihr Zeugnis ist wirksamer sowohl auf Grund der Kenntnis im allgemeinen, die sie von den Dingen haben, wie auf Grund von der Wahrhaftigkeit dieser Personen. So erscheint auch das Zeugnis von uns bekannten Personen wirksamer zu sein; denn sie kennen mehr alle die einzelnen Verhältnisse unseres Thuns. II. Die mit uns in der Sünde verbundenen Personen und ihr Zeugnis fürchten wir nicht und schämen wir uns vor ihnen nicht; weil wir überzeugt sind, sie fassen unseren Mangel nicht als etwas Schändliches auf. III. Die Verbreiter und Spötter fürchten wir wegen des von ihnen zu erwartenden Nachteils. IV. Auch vor jenen, unter welchen wir fleckenlos verkehrt haben, schämen wir uns in höherem Grade wegen des begleitenden Nachteils; denn wir verlieren die gute Meinung bei ihnen und das Schändliche erscheint vor ihnen um so mehr als sie uns nur von der guten Seite kannten. Und vor denen, von welchen wir etwas von neuem erbitten oder deren neue Freunde wir sein wollen, schämen wir uns ebenfalls wegen des Nachteils, der uns erwächst; indem sie unsere Bitte nicht gewähren oder die Freundschaft abbrechen werden.
